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Im zweiten Teil des Beitrags befasst sich Diethard Kersandt mit den Schlussfolgerungen, die aus der Ermittlung der Hintergründe zu ziehen sind.

Betrachtet man den in Teil 1 (HANSA 5/2011, Seite 60–63) dieses Beitrags geschilderten Seeunfall losgelöst von den Bedingungen[ds_preview], unter denen er sich ereignen konnte, muss man zu falschen Schlussfolgerungen kommen, insbesondere bezüglich der Ermittlung der wahren Ursachen und Verantwortungsebenen. Für die Resultate einer solchen »Ermittlung« mögen zwei Beispiele dienen.

n-tv / Politik, Freitag, 19. April 2002: Tod von Marinesoldaten – Keine strafrechtlichen Folgen

»Bei dem Tod zweier deutscher Marinesoldaten während eines NATO-Mannövers Anfang März in der Ostsee hat es sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft um einen tragischen Unfall gehandelt. Strafrechtliche Konsequenzen schloß Staatsanwalt … aus. Bei der Vorstellung des Untersuchungsberichts der britisch-deutschen Marinekommission betonte Kapitän zur See …, die Rettungskräfte hätten nicht zu langsam gehandelt. Die ertrunkenen Soldaten hätten jedoch ihre Schwimmwesten nachlässig angelegt. Der seitliche Leitgurt der Westen sei den Untersuchungen zufolge nicht ordnungsgemäß angezogen gewesen, erklärte … Der verunglückte Obermaat habe zudem den Schrittgurt nicht befestigt gehabt. Beide ertrunkenen Männer hätten überdies den Spritzschutz aus der Kapuze nicht über ihr Gesicht gezogen. Eine korrekte Befestigung der Gurte hätte verhindern können, dass die Köpfe der Soldaten unter Wasser sinken.« (Quelle: http://www.n-tv.de/politik/Keine-strafrechtlichen-Folgen-article129253.html)

BUNDESWEHR 20 Minuten bis zum Tod

»Montag 24.11.2003, 00:00 · von Philipp Greiner und FOCUS-Korrespondent Thomas van Zütphen

Zwei Marinesoldaten ertranken in der Ostsee. Nun soll der Kapitän wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden. Erst mit dem Rücken zur Wand ging er zur Vorwärtsverteidigung über. Die Bundeswehr-Untersuchung des Marineunglücks habe den ›Charakter eines standgerichtlichen Schnellverfahrens‹. Der gegen ihn als Schiffskommandanten erhobene Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung ›hat mich in meiner Ehre als Marineoffizier tief verletzt‹. Die ›rufschädigende Vorgehensweise meines Dienstherrn‹, schrieb der 45-jährige Offizier an den Wehrbeauftragten des Bundestags, nehme ›unerträgliche Ausmaße‹ an.« (Quelle: http://www.focus.de/politik/deutschland/bundeswehr-20-minuten-bis-zum-tod_aid_196645.html)

Seefahrt findet nicht im Sandkasten statt. Und Seefahrt unter militärischen Bedingungen findet auch nicht isoliert statt, sondern es bedarf dazu eines Hintergrundes, aus dem Moral, Anstand, Achtung, Verantwortungsgefühl und Sorgfaltspflicht für die anvertrauten Menschen entspringen. Warum zog sich die Führungsebene bei den tödlichen Unfällen auf der Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern« aus der Verantwortung?

Warum muss man den Eindruck haben, dass ein ähnliches Verhalten für den Unfall auf der »Gorch Fock« zu beobachten ist? In geradezu typischer Weise versucht jede Systemebene, Gründe für ihre Existenz zu finden und wehrt sich gegen Angriffe auf ihren Entscheidungs- und Handlungsraum.

Welche Geisteshaltung mag wohl in der Bundesmarine herrschen, die eine ihrer Fregatten, auf der vor kurzer Zeit zwei Marinesoldaten ihr Leben verloren, mit folgendem »Leitspruch« ihren Dienst versehen lässt? »Der Tod ist nur ein Mythos, gleichsam ein Schreckgespenst der Mutlosen, uns zu hindern, das Äußerste zu wagen.« (Edward G. Orsten) (s. Abb. 2; der Verfasser konnte nicht ermitteln, wer Orsten war oder ist.)

Wer hat diesen »Leitspruch« auf der Brücke vor dem Arbeitsplatz des Kommandanten neben den »orientalischen Souvenirs« anbringen lassen? Wer hat ihn geduldet? Wer hat ihn gesehen? Wer hat die Achtung vor dem menschlichen Leben einer lockeren Losung geopfert? Wer hat geduldet, dass Kriegsschiffe ohne normgerechte Rettungsmittel für die Eigen- und die Fremdrettung in Manöver geschickt werden oder z. B. am Horn von Afrika ihren Dienst versehen? Wer hat die Karnevalsfeier auf der »Gorch Fock« zugelassen, nachdem sich gerade ein tödlicher Unfall ereignet hatte? Haben der Kommandant bzw. die Marineführung genau das dem zitierten »Leitspruch« entsprechende Verhalten gezeigt?

»Karneval nach dem Todesfall

»Der Bericht von Königshaus bestätigt auch Aussagen von Soldaten, die sich in den vergangenen Tagen anonym in verschiedenen Medien Luft gemacht hatten. Vor allem wird die Trauerarbeit nach dem Tod der Offiziersanwärterin im November kritisiert. Im Visier steht Kommandant Schatz. Dieser habe nach dem Tod ›trockene‹ Reden gehalten: Der Todesfall sei ein Unglück, jedoch normal wie ein Flugzeugabsturz. Die Offiziersanwärter empfanden es zudem als unpassend, dass die Besatzung kurz nach dem Tod »zur Tagesordnung überging« und heftig und lautstark Karneval feierte.« (Quelle: http://nachrichten.t-online.de/bundeswehr-skandal-alkohol-exzesse-an-bord-der-gorch-fock-/id_44120670/index)

Hans Freiherr von Stackelberg, Kapitän z. S. a. D., Kommandant SSS »Gorch Fock« 1972–1978: »Die Frage muss aber auch erlaubt sein, wo die Führung bleibt, um sich endlich vor dieses so ungerecht mit ›polemischem Schmutz‹ beworfene, gerade für unseren maritimen Nachwuchs in der heutigen Zeit so besonders wertvolle Schiff zu stellen.« (Quelle: http://www2.gorchfock.de/Internetseite der Bordkameradschaft / Dienstag, 25. Januar 2011 um 02:15 Uhr)

Wer wird auf welchen Führungsebenen zur Verantwortung gezogen? Wer wird den Kampf der Systemebenen verlieren? In der Regel das schwächste Glied. Das war schon bei dem tödlichen Unfall auf der Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern« der Fall: Die Marinesoldaten hatten ihre Schwimmwesten nicht richtig angelegt und der Kommandant den Einsatz eigener Rettungsmittel verhindert. Die Marineführung aber hatte die Seetüchtigkeit des Schiffes wegen der nur bedingt einsatzbaren Rettungsmittel über Ausnahmegenehmigungen »per Papier« verfügt. Hatte sie damit nicht formell die Verantwortung für den Einsatz übernommen? Die Führung verlagerte die öffentliche Aufmerksamkeit auf das von den eigenen Untersuchungsstellen ermittelte Fehlverhalten des Kommandanten, der dagegen in der Öffentlichkeit vorging und … seinen Kampf verlor.

Und die tödlich verunglückte Frau auf der »Gorch Fock«? Sie war es doch, die in die Takelage stieg.

»Gorch Fock«-Kapitän nimmt – Abberufung nicht hin

Samstag 29.01.2011, 10:01

Der von Verteidigungsminister Guttenberg abberufene Kapitän des Segelschulschiffs ›Gorch Fock‹, Norbert Schatz, erwägt, juristisch gegen die umstrittene Entscheidung vorzugehen.

›Einer Suspendierung vom Dienst muss ein rechtliches Gehör des Betroffenen voraus gehen«, erklärte der Wilhelmshavener Rechtsanwalt Hans-Joachim Heine, der Schatz vertritt, gegenüber ›Focus‹. Ein rechtliches Gehör aber habe es im Fall seines Mandanten nicht gegeben. ›Nach allem, was mir bekannt ist, war die Art und Weise der Entlassung grob fürsorgewidrig‹, so Heine. Der Vertragsanwalt des Bundeswehrverbandes prüft, sich an das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu wenden, damit ›der erste Wehrsenat die Rechtswidrigkeit dieser Suspendierung feststellt …

(Schon der Kommandant der Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern« wurde in Leipzig abgewiesen. d. Verf.)

… Unterdessen begann die Kieler Staatsanwaltschaft im Fall der tödlich verunglückten Offiziersanwärterin Sarah Lena Seele mit neuen Vernehmungen. In der Marineschule Mürwik (Flensburg) befragten Ermittler mehrere Offiziersanwärter als Zeugen. Die Gespräche lieferten keine neuen Ergebnisse. ›Ein Fremdverschulden am Tod von Sarah Lena ist nach wie vor nicht erkennbar‹, sagte Oberstaatsanwalt Bernd Winterfeldt zu FOCUS …« (Quelle: http://www.focus.de/politik/deutschland/gorch-fock-kapitaen-nimmt-abberufung-nicht-hin_aid_594788.html)

Ist der Marineführung bewusst, welcher Geist in der »Truppe« herrscht? Ist sie sich ihrer Verantwortung bewusst, wenn sie ihre Einheiten im internationalen Einsatz mit derartigen Leitsprüchen wie auf der »Mecklenburg-Vorpommern« zur See fahren lässt? Wo wurden die Kommandanten und Offiziere ausgebildet? Welchen Zusammenhang gibt es mit welchen Systembedingungen (z. B. Gesellschaftliche Bedingun­gen, soziale Faktoren, Gesetzgebung / organisatorische Bedingungen )?

Angesichts der sich aus der Analyse dieser vier Unfälle ergebenden Zusammenhänge eröffnet sich zwangsläufig die Frage nach den Ursachen und Bedingungen, unter denen menschliches Versagen bzw. Fehlverhalten entstehen und sich entwickeln kann. In der Regel liegt der prozentuale Anteil der Unfälle auf See an den Gesamtseeunfallursachen, orientiert man sich an den statistischen Aussagen in der zivilen Schifffahrt, bei ca. 70–80 %. Diese Zahl ist zunehmend nationaler und internationaler Kritik ausgesetzt, denn verstärkt wird nach der Verlässlichkeit eines Mensch-Maschine-Systems in seiner Gesamtheit gefragt.

Welche Bedingungen waren in den einzelnen Fällen nun von vorrangiger Wirkung auf nicht gewollte Ereignisse?

»Beluga«: natürliche Umweltbedingungen, Gesundheit, Leistungsbedingungen, Psychologie, Beschaffenheit des Schiffes

»Cosco Busan«: Kompetenz, Situationsbewusstsein, Gesundheit, Leistungsbedingungen, soziale Faktoren, Gesetzgebung, organisatorische Bedingungen, Beschaffenheit des Schiffes und der Ausrüstung, natürliche Umwelt

»Mecklenburg-Vorpommern«: gesellschaftliche Umwelt, Beschaffenheit des Schiffes, der Ausrüstung, natürliche Umwelt, Gesetzgebung, organisatorische Bedingungen, Kompetenz, Situationsbewusstsein, soziale Faktoren

»Gorch Fock«: gesellschaftliche Umwelt, Gesetzgebung, organisatorische Bedingungen, Kompetenz, Situationsbewusstsein, soziale Faktoren, kulturelle Faktoren (mit allem Vorbehalt, da die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind – d. Verf.)

Gegenstand der Konflikte ist das Verhalten menschlicher Individuen in einer organisationellen komplexen hierarchischen Struktur. Nur allzu leichtfertig – das ist in der Handelsschifffahrt nicht anders – gilt die Technik als unfehlbar, makellos, zuverlässig. Der Mensch hingegen ist angreifbar, ihm sind Fehler leicht nachweisbar und was besonders »nützlich« ist, ihn kann man juristisch zur Verantwortung ziehen, degradieren, ablösen, einen Patententzug anordnen und was besonders wichtig ist, die infolge eines Fehlverhaltens entstandene Schäden versicherungstechnisch »regulieren«.

Herstellern von Technik (z. B. von Schiffsführungssystemen), Ausbildungseinrichtungen (z. B. Qualität und Inhalt) und Reedern (z. B. Einhaltung der Schiffsbeset-

zungsordnung, wirtschaftliche Aufgaben) werden in der Regel kaum Versäumnisse nachgewiesen.

Natürlich ist auch die »Zentrale Dienstvorschrift Innere Führung (ZDv 10/1), die der Bundesminister für Verteidigung Dr. Jung am 28.01.2008 erließ, fast ohne Makel und gibt eine grundsätzliche Orientierung für die Bundeswehr (Herausgeber: BMVg – Führungsstab der Streitkräfte I 4). Beispiele:

• 601. Die Vorgesetzten leben Innere Führung vor und tragen eine besondere Verantwortung für die Gestaltung der Inneren Führung in allen Bereichen des militärischen Dienstes. Von ihren Soldatinnen und Soldaten werden sie als die vornehmsten Träger der Inneren Führung im Dienstalltag wie im Einsatz wahrgenommen. Sie haben damit großen Einfluss auf den Geist der Truppe und gestalten ihr dienstliches Umfeld, indem sie mit Umsicht führen, durch Vorbild erziehen und mit Leidenschaft ausbilden. Dabei wirken sie so, dass sie für die ihnen anvertrauten Menschen glaubwürdig sind.

• 609. Gerade Einsätze können bei Menschen Stärken und Schwächen zutage treten lassen, die bisher im Verborgenen geblieben sind. In Zeiten gemeinsamer Belastung, Gefährdung und Bewährung kommen auch Dinge zur Sprache, die an die menschliche Existenz rühren. Themen wie Verwundung und Tod, Umgang mit Angst oder Fragen nach Schuld und Versagen dürfen dabei nicht verdrängt oder heruntergespielt werden, sondern müssen ehrlich und einfühlsam besprochen werden. Aus einer solchen Gesprächskultur entstehen neben ethischem Bewusstsein auch gegenseitiges Vertrauen und sichere Gefolgschaft. (Ende der Zitate)

Zu erklären bleiben folgende Zitate: »Der Tod ist nur ein Mythos, gleichsam ein Schreckgespenst der Mutlosen, uns zu hindern, das Äußerste zu wagen.«

»Der Todesfall sei ein Unglück, jedoch normal wie ein Flugzeugabsturz.«

»Aus einer solchen Gesprächskultur entstehen neben ethischem Bewusstsein auch gegenseitiges Vertrauen und sichere Gefolgschaft.«

In vollem Umfange scheint sich die Aussage dieses Artikels im Falle des im März fertiggestellten Untersuchungsberichtes zu den Ereignissen auf der »Gorch Fock« zu bestätigen: Prozesse können »beliebig interpretiert und bewertet werden … (einschließlich der Behandlung vor Gericht), in dem die Wurzeln von Ursachenketten nach Gefälligkeit verpflanzt werden können und solange sich der gesetzmäßige Verlauf von Ursachen und Wirkungen einer objektiven wissenschaftlichen Beschreibung entziehen kann …«

Spiegel online – Politik formuliert am 16.03.2011:

»Mit dem Bericht hat sich die Marine keinen wirklichen Gefallen getan. Selbst bei wohlwollendem Lesen und der Erkenntnis, dass die Affäre um die ›Gorch Fock‹ womöglich etwas aufgeblasen war, überkommt den Leser unweigerlich das Gefühl, dass hier gar nicht aufgeklärt werden sollte …«

Für »fast alle Beispiele finden die Ermittler gar Dienstvorschriften, die das Treiben an Bord rechtfertigen …« (Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,750920,00.html)

Der Verfasser hatte in einem Schreiben an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages den »Leitspruch« auf der Brücke der Fregatte »Mecklenburg-Vorpommern« in Zusammenhang mit den Zielen der »Inneren Führung« der Bundeswehr kritisiert.

Am 13.05.2011 antwortete der Wehrbeauftragte abschließend (auszugsweise zitiert): »… Danach hat sich Ihr Vorbringen bestätigt. Das Schild mit dem von Ihnen zitierten Leitspruch am Platz des Kommandanten wurde inzwischen allerdings entfernt. Zum Inhalt des Spruches hat der zuständige Befehlshaber erklärt, dass er das Zitat, ohne es in einen Gesamtzusammenhang einordnen zu können, als mögliche Verherrlichung einer Todesverachtung einstufe, die mit den heutigen Leitbildern von Mut und Tapferkeit nicht in Einklang stehe. Vor diesem Hintergrund hat er den zuständigen Geschwaderkommandeur angewiesen, bei kommenden Kommandantenunter-richtungen deutlich zu machen, dass Leitsprüche … in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit den geltenden Erziehungsidealen und Traditionen stehen müssen. …« (Referat WB 1, Grund-satzangelegenheiten, Grundsätze der Inneren Führung, Innerer Dienst, 13.05.2011)

Dr.-Ing. Diethard Kersandt