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Eine kritische Betrachtung des Kenntnisstandes bei menschlichen und organisatorischen Faktoren in der Schiffssicherheit.

Es ist ein wenig still geworden um die menschlichen Faktoren, die so häufig im Zusammenhang mit Unfällen als Ursache angeführt[ds_preview] werden. Trotzdem passieren immer wieder Unfälle, die maßgeb­lich von menschlichen Entscheidungen und Bedingungen beeinflusst worden sind. Ob es sich dabei um eine Ölplattform handelt, wie die 2010 gesunkene »Deepwater Horizon«, oder ein Techno-Spektakel, wie die im vergangenen Jahr tragisch endende Loveparade in Duisburg, spielt keine Rolle.

Die Schifffahrt macht da keine Ausnahme, und viele Standardbeispiele im Unfallgeschehen stammen aus dem maritimen Sektor. Je nachdem, wie weit man zurückgehen möchte, kann man sich dabei unterschiedliche Unglücksfälle vor Augen rufen. Die immer noch häufig zitierte Kollision der »Titanic« im Jahre 1912 unterstreicht die begrenzte menschliche Vorstellungskraft bei Unfallwirkungen und deren Konsequenzen, wie die Konstruktion der wasserdichten Schotte verdeutlicht. Der Untergang der »Wasa« im August 1628 ist ein sehr frühes Beispiel, wie durch Managemententscheidungen Einfluss auf Sicherheitsmaßnahmen genommen werden kann bzw. für organisatorische Faktoren in der Schiffssicherheit allgemein, die nicht immer nur ihre Wurzeln auf dem Schiff haben, sondern viel öfter im Landbereich. Hier würde sich auch das gern verwendete Zitat »Navigare necesse est, vivere non est necesse« (Schifffahrt ist wichtig, Leben nicht) anschließen. Aus der Sicht des Gnaeus Pompeius, der vor über 2000 Jahren für die Getreideversorgung von Rom zuständig war, ist dieser Ausspruch schon verständlich. Er ärgerte sich über die Tatsache, dass die Kapitäne seiner Flotte sich weigerten, bei aufkommendem Sturm in See zu stechen und so die hungernde Stadt Rom so schnell wie möglich zu versorgen. Allerdings beschreibt er sehr deutlich das Dilemma, in dem sich die Schiffssicherheit auf der einen und menschliche sowie organisatorische Faktoren auf der anderen Seite sehr häufig befinden.

Zeitdruck auf See, unzureichende Vorkehrungen an Land

Aus vermeintlichen Zwangssituationen heraus werden oft Fehleinschätzungen getroffen und falsche Prioritäten gesetzt. Das Resultat sind dann Unfälle, wie die Strandung des Tankers »Torrey Canyon« im Jahr 1967, bei der der Kapitän unter Zeitdruck eine riskante Passage auf der Ostseite der Scilly-Inseln wählte. Fast genau 40 Jahre später, im Januar 2007, musste das Containerschiff »MSC Napoli« im selben Seegebiet aufgegeben werden, weil die Wellen eines Sturmes strukturelle Schäden am Schiffskörper verursachten, die möglicherweise in dieser Situation bei weiter reduzierter Geschwindigkeit nicht aufgetreten wären. Der Unfallbericht kritisiert die Einstellung der am Containergeschäft Beteiligten, die dem Fahrplan Vorrang vor Sicherheitsbedenken geben. Es sind speziell diese vermeintlichen Zwangssituationen, die eigentlich durch internationale Regelwerke, wie den ISM-Code, vermieden werden sollen. Auch der ISM-Code, wie so viele andere Sicherheitsregelwerke in der Schifffahrt, ist das Ergebnis eines Unfalls, nämlich des Kenterns der Fähre »Herald of Free Enterprise« im Jahre 1987. Die Untersuchungskommission kam seinerzeit zu dem Ergebnis, dass der Unfall durch Nachlässigkeit in der Reederei mit verursacht worden war.

Das Kentern der »Herald of Free Enterprise« markiert einen sehr wichtigen Wendepunkt in der Betrachtung organisatorischer Faktoren im Zusammenhang mit Unfällen in der Seeschifffahrt. Auf internationalem Niveau wurde durch die IMO erstmalig anerkannt, dass Unfälle in der Schifffahrt durchaus teilweise auch durch unzureichende Vorkehrungen an Land mit verur­sacht werden können. Insofern wurde hier als Reaktion nicht mit weiteren technischen Regeln geantwortet, die sich auf die Abwendung des letzten unfallauslösenden Ereignisses beziehen, sondern Maßnahmen ergriffen, die eine vorbeugende Wirkung im Umfeld des Schiffes und der Reisevorbereitung und -durchführung erzielen sollen. Dabei kommt dem bereits genannten ISM-Code eine sehr hohe Wertigkeit zu. Konsequent ist deshalb auch, dass die IMO in ihren Empfehlungen zur Unfalluntersuchung ein Unfallursachenmodell vorschlägt, das speziell auf organisatorische Faktoren fokussiert ist. James Reason hat dieses Modell Anfang der 90er Jahre als Gegenentwurf zu Charles Perrows Ideen über »normale« Unfälle publiziert. Während Perrow Mitte der 80er Jahre mit der provokanten These aufwartete, dass technische Systeme einfach zu komplex sind und so viele Wechselwirkungen beinhalten, die es unmöglich machen, Unfälle zu vermeiden, geht Reason davon aus, dass durch unzureichende Rahmenbedingungen im Bordbetrieb Unfälle oft geradezu provoziert werden.

Nur begrenzt in Unfallberichten: organisatorische Faktoren

Sehr häufig stecken hinter diesen Rahmenbedingungen auch landseitige Entscheidungen im Reedereibetrieb. Entscheidungen auf unterschiedlichen Managementebenen können dabei sehr weitreichende Konsequenzen haben, etwa bei der Personalstärke an Bord, dem Flaggenstaat, dem Schiff und seinen technischen Möglichkeiten selbst, um nur einige Beispiele aufzuführen. Wie bei so vielen anderen Themen auch, bleibt selbstverständlich diese Sichtweise nicht unwidersprochen. Gerade in jüngerer Zeit verweisen einige Autoren auf Defizite bei Reasons Modell. Zum einen führt die Linearität des Modells fast immer automatisch dazu, die Verantwortung für einen Unfall zumindest teilweise vom Schiff in den Landbereich und dort ins obere Management zu delegieren. Zum anderen wird eine Vielzahl anderer Einflüsse auf menschliche Entscheidungen nicht berücksichtigt. Trotzdem eignet sich das Modell gerade bei Unfällen wie dem Kentern der »Herald of Free Enterprise« sehr gut für die Erklärung des Unfallhergangs und der beeinflussenden Faktoren, die zu diesem Unfall geführt haben. Außerdem ist es, wie bereits erwähnt, das einzige Unfallursachenmodell, das laut IMO-Empfehlungen für die Unfallursachenanalyse benutzt werden sollte. Insofern müsste man, nach mehr als dreizehn Jahren, in denen das Modell als Empfehlung in den IMO-Richtlinien zu finden ist, einen sehr guten Überblick zum Stand und zum Einfluss organisatorischer Faktoren bei der Unfallverursachung in der Schifffahrt haben. Das scheint allerdings nicht der Fall zu sein.

In einer früheren Studie aus dem Jahre 2004 kommt einer der Autoren dieses Beitrags zu der Schlussfolgerung, dass Unfalluntersuchungsberichte aus der Schifffahrt nur sehr begrenzt Anhaltspunkte zu menschlichen und organisatorischen Faktoren enthalten. Damals wurden 42 Unfallberichte aus der internationalen Passagierschifffahrt auf Informationen bezüglich menschlicher und organisatorischer Faktoren im Unfallprozess untersucht. Das Modell, das für die Analyse verwendet wurde, basierte allerdings nicht auf dem schon erwähnten Modell von Reason. Um somit mögliche Abweichungen in den Daten auszuschließen, wurde im Rahmen einer kürzlich an der World Maritime University abgeschlossenen Studie eine weitere Analyse von 41 Unfallberichten zu Feuern und Explosionen im Maschinenbereich auf Seeschiffen durchgeführt. Bei dieser Analyse wurde das Human Factor Analysis and Classfication System (HFACS) verwendet, das eine direkte Umsetzung des Modells von James Reason für die Zwecke von Unfallanalysen ist. Die ausführlich kommentierten Hintergründe und Ergebnisse dieser Analyse werden auch im Rahmen der IMO diskutiert. Was in dieser Studie deutlich wird, ist die Tatsache, dass es ein sehr großes Interesse am letztendlich unfallauslösenden Ereignis und den direkt dazu führenden Faktoren gibt. Die beeinflussenden organisatorischen Faktoren im Umfeld und in der Vorgeschichte eines Unfalls werden, den Ergebnissen dieser Stichprobe zufolge, jedoch nicht ausreichend recherchiert oder in den Berichten dargestellt. Das HFACS nimmt, wie auch James Reason, an, dass es bei jedem Unfall ein oder mehrere auslösende Ereignisse (Unsafe Acts) gibt, die von Akteuren direkt vor Ort (James Reason nennt das »at the sharp end«) initiiert werden. Allerdings gibt es in der Regel direkte Einflussfaktoren (Preconditions of Unsafe Acts), wie z. B. Müdigkeit, Unaufmerksamkeit, mangelnde Erfahrung usw., die laut Reason oft aus nicht sicherheitsgerechter Personalführung (Unsafe Supervision) und darüber hinaus weiteren allgemeinen organisatorischen Einflüssen (Organizational Influences) resultieren können, die maßgeblich durch Managemententscheidungen beeinflusst werden können.

Extremzustände bei der Verteilung von Verantwortung

Nun kann und soll sicherlich nicht jeder Unfallfaktor bis in die höchsten Managementebenen zurückverfolgt werden. Das würde ein völlig falsches Bild von der Sicherheitsphilosophie vieler Reedereien zeichnen und von der Verantwortung einzelner Besatzungsmitglieder für ihre Sicherheitsaufgaben ablenken. Wie in allen anderen Industrien gibt es auch in der internationalen Seeschifffahrt sehr viele Betriebe, die sehr viel für hohe Sicherheitsstandards in den täglichen Abläufen unternehmen. Es gibt allerdings auch etliche Firmen, die die Sicherheit primär als Kostenfaktor betrachten. Folgt man daher dem theoretischen Idealfall, müsste sich bei sehr sicherheitsbewussten Organisationen eine geringere Anzahl von Einflussfaktoren bei Unfällen, die ihre tieferen Wurzeln in oberen Managementbereichen haben, finden. Die eigentlichen unfallauslösenden Ereignisse sind dann eher Zufalls-, Unaufmerksamkeits- oder Denkfehler durch die Beteiligten vor Ort. Die Verteilung über die einzelnen Verantwortungsebenen würde in dem Falle eher wie eine Pyramide aussehen. Bei Organisationen, die Sicherheit nicht zu einer Priorität machen, sollte die Verteilung von Einflussfaktoren über die Verantwortungsebenen dann eher wie eine umgekehrte Pyramide aussehen. Eine Reihe von Managemententscheidungen würde hier das Sicherheitsniveau im Schiffsbetrieb systematisch unterminieren und die unteren Ebenen hätten alle Hände voll zu tun, diese Sicherheitsdefizite zu kompensieren. Das sind nun die beiden Extremzustände. Im Normalfall wird sich eine Organisation vermutlich zwischen diesen beiden Extremen befinden und müsste dann eine mehr oder minder ausgeprägte Gleichverteilung der Faktoren auf den unterschiedlichen Entscheidungsebenen zeigen.

In der hier vorliegenden Studie zu den Unfallursachen von Bränden und Explosionen im Maschinenbereich wurden insgesamt 368 unfallbeeinflussende Faktoren herausgestellt. Diese verteilen sich wie in Tabelle 1 dargestellt.

Wie man hier beobachten kann, wurde in den analysierten Unfallberichten eine überproportional hohe Faktorenanzahl in der physischen und technischen Umwelt angeführt. Das bedeutet, dass in den Berichten Fehler auf der untersten organisatorischen Ebene zu einem sehr großen Teil mit technischen Unzulänglichkeiten in Verbindung gebracht werden. Die Frage, ob diese technischen Unzulänglichkeiten nicht bekannt gewesen sind und im Vorfeld eines Unfalls hätten abgestellt werden können, wird von den Unfalluntersuchern in den einzelnen Berichten nicht aufgegriffen. Die damit im Zusammenhang stehenden organisatorischen Einflüsse sind in den Berichten ebenfalls unterrepräsentiert. In einer Vielzahl von Berichten werden organisatorische Faktoren zwar erwähnt, jedoch ist der logische Zusammenhang mit den unfallauslösenden Ereignissen nicht immer aufgezeigt worden. Insgesamt wird bei der Betrachtung von Tabelle 1 klar, dass die Unfalluntersucher es in ihren Berichten häufig bei der Feststellung von technischen Umweltfaktoren belassen. Ob in diesem Zusammenhang auch die Frage nach organisatorischen Faktoren gestellt wurde, lässt sich zumindest anhand der präsentierten Daten in den Berichten nicht bejahen. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Darauf wird später noch ausführlicher eingegangen werden. Jedoch hat eine solche Berichtsituation natürlich Konsequenzen, die hier kurz verdeutlicht werden sollen.

Man könnte in diesem Zusammenhang etwas plakativ auf das Beispiel der »Herald of Free Enterprise« verweisen. Die Analyse der unfallbeeinflussenden Faktoren der Studie legt nahe, dass sich die Unfalluntersuchung auf den Hilfsbootsmann und den Ersten Offizier konzentrieren müsste. Die zentrale Frage, die es zu klären gilt, wäre in diesem Falle die Frage, warum die Bugklappe nicht geschlossen wurde. Auf dem untersten Niveau des HFACS würde man dann zwei individuelle Regelverstöße finden – den Hilfsbootsmann, der in seiner Kabine schlief und die Bugklappe verschließen sollte, und den Ersten Offizier, der vor Abschluss der Ladungssicherungsarbeiten das Autodeck verließ und auf die Brücke ging, um das Ablegen vorzubereiten. Weiter könnte man dann auf dem nächst höheren HFACS-Niveau eine Reihe technischer Faktoren anführen, um zu erklären, warum sich diese beiden Regelverstöße so folgenschwer auswirkten. Da wäre zum einen die fehlende Kontrollleuchte auf der Brücke, die anzeigen sollte, ob die Bugklappe geschlossen ist oder nicht. Zum anderen wäre da noch das auf den Bug getrimmte Schiff, das volle Ballasttanks am Bug brauchte, um überhaupt Autos über die Bugrampe am Liegeplatz aufnehmen zu können, sowie fehlende Stabilitätsunterlagen und ein paar andere Faktoren.

Damit würde man dann die Untersuchung beenden. Auf diese Weise wäre die Frage nach der Mitverantwortung des Reedereimanagements nie gestellt worden. Insofern ist es enttäuschend zu sehen, dass die in der Studie untersuchten Unfallberichte diese und andere organisatorischen Faktoren nicht aufgreifen, obwohl die bereits genannten Unfälle in der Vergangenheit die Wichtigkeit dieser Faktoren eigentlich recht deutlich machen. Gerade organisatorische Faktoren hatten doch zur Einführung des ISM-Codes geführt, was für Reedereien weltweit mit einer Reihe von Kosten verbunden war und ist und auch an Bord zu einer nicht unerheblichen Steigerung der Arbeitsbelastung geführt hat. Von daher müsste man eigentlich erwarten können, dass diesen Faktoren in der Zwischenzeit insgesamt mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Organisatorische Faktoren in der Kritik

Wie kann man sich also die Ergebnisse dieser Studie nun erklären? Handelt es sich bei den hier aufgeführten Defiziten um eine Datenlücke, durch die möglicherweise ein potenzielles Sicherheitsproblem ignoriert wird, oder handelt es sich hier einfach um eine hauptsächlich akademische Diskussion ohne weiteren praktischen Wert?

Zunächst einmal muss man zugeben, dass die Bedeutung organisatorischer Faktoren, wie sie seinerzeit durch James Reason in seinen Modellen definiert wurden, gerade in letzter Zeit in der Fachliteratur häufig kritisiert worden ist. Hier sei nur noch einmal stellvertretend auf Erik Hollnagel verwiesen. Hollnagel führt in diesem Zusammenhang zwei bemerkenswerte Argumente an. Zum einen kritisiert er, wie bereits erwähnt, die Linearität des Modells von James Reason. Andere Autoren, wie z. B. Sidney Dekker, schließen sich dieser Kritik an, da Reasons Modell im Extremfall dazu führen kann, die Unfallursachen ausschließlich im Managementbereich zu suchen. Das Modell erklärt Unfälle ja als eine Folge von ungenügenden Managemententscheidungen und deren nachfolgenden Wirkungen im System. Zum anderen bemängelt Hollnagel, dass organisatorische Faktoren nur einen Teil der unfallverursachenden Faktoren darstellen. Er vertritt die Auffassung, dass die Sicherheit ein dynamischer Prozess ist, in den viele, kontinuierlichen Schwankungen unterworfene Faktoren involviert sind. Überlagern sich diese Faktoren nun in einer Art, dass sie ihre negativen Auswirkungen – ähnlich der Resonanz von Wellen – verstärken, kommt es zu einem Unfall. Insofern ist die kritische Frage nach der Bedeutung und Wertigkeit der organisatorischen Faktoren statthaft.

In diesem Zusammenhang sei ebenfalls erwähnt, dass organisatorische Faktoren sicherlich weitaus schwerer zweifelsfrei zu identifizieren sind als technische. Eine nicht geschlossene Bugklappe, eine regelwidrige Kursänderung, ein defekter Temperatursensor oder Ähnliches lassen sich sehr leicht belegen, und die damit verbundenen technischen Effekte sind zweifelsfrei ableitbar. Inwieweit nun allerdings die Müdigkeit eines Besatzungsmitglieds durch eine bestimmte Entscheidung landseitiger Stellen hervorgerufen wurde, unterliegt zu einem gewissen Teil den subjektiven Bewertungen des jeweiligen Unfalluntersuchers. Wenn sich für die jeweiligen organisatorischen Fragen keine handfesten Beweise erbringen lassen, wird ein Unfalluntersucher in der Regel sehr vorsichtig sein müssen, bevor er diese Faktoren in seine Argumentation über die Unfallursachen mit einbeziehen kann. Um die notwendige Beweissicherheit erbringen zu können, müssen Nachfragen und Hintergrundrecherchen angestellt werden. Das ist zeitaufwendig. Daher stellt sich die Frage, warum ein Unfalluntersucher diese Zeit aufbringen sollte, wenn die Wissenschaft den Stellenwert der organisatorischen Faktoren durchaus kontrovers diskutiert? Insofern befindet sich ein Unfalluntersucher bei Ermittlung organisatorischer Faktoren zugegebenermaßen in einer ziemlich schwierigen Situation. Darüber hinaus muss nicht in jedem IMO-Mitgliedsstaat eine gesetzliche Vorschrift existieren, die, wie z. B. in Deutschland für die Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU), den Schwerpunkt bei der Unfalluntersuchung auf die Erkennung von Sicherheitslücken im Schiffsbetrieb festschreibt und die Untersuchung unfallbegünstigender Faktoren ausdrücklich verlangt. Es ist vielfach immer noch so, dass es während einer Unfalluntersuchung primär um die Feststellung individueller Schuld und der damit verbundenen rechtlichen Konsequenzen (Haftung, Schadensersatz, Bußgelder, Entzug von Befähigungszeugnissen u. Ä.) geht. Bei einem solchen Schwerpunkt ist die Zurückverfolgung von Begleitumständen und beeinflussenden Faktoren dann auch nicht nötig.

Organisatorische Faktoren jenseits der Unfallschuld

Trotzdem sind gerade vom Standpunkt der Schifffahrtsverwaltungen organisatorische Faktoren sehr wichtig. Über technische Standards werden Bau, Ausrüstung und Betrieb von Schiffen geregelt. Über Ausbildungsstandards werden die Kriterien festgelegt, nach denen Personen befähigt werden, Schiffe zu führen. Die Qualität allerdings, mit der diese Standards durch Unternehmen in der Schifffahrt umgesetzt werden, ist maßgeblich durch organisatorische Faktoren bestimmt. Deswegen gibt es den ISM-Code und deshalb finden sich z. B. auch im IMO-Code für die Umsetzung der verbindlichen IMO-Regelwerke Forderungen zur regelmäßigen Betrachtung der Leistung der registrierten Flotte. Eine der vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bewertung der Leistung ist die Untersuchung von schweren und schwersten Unfällen und die Lehren, die aus dem Unfallgeschehen gezogen werden. Bei den Unfalluntersuchungen findet sich im Übrigen ein Verweis auf die IMO-Richtlinien. Insofern verwundert es, dass die in diesem Artikel betrachtete Studie den Schluss nicht zulässt, dass die IMO-Richtlinien berücksichtigt werden. Für die Schifffahrtsverwaltung ist es ausgesprochen wichtig sicherzustellen, dass die durch sie bestimmten Sicherheitsstandards nicht durch unzureichende Maßnahmen in der Organisation eines Schifffahrtsbetriebes unterminiert werden und somit unnötige Unfallrisiken entstehen. Deshalb gilt es, gerade aus der Sicht der Schifffahrtsverwaltung, die organisatorischen Faktoren in der Schifffahrt nicht zu unterschätzen.

Wenn nun aber keine Daten über organisatorische Einflüsse auf das Unfallgeschehen in der Seeschifffahrt gesammelt werden, hat das natürlich Folgen. Schifffahrtsverwaltungen müssen ihre Entscheidungen bezüglich der von ihnen festgelegten Sicherheitsstandards in der Öffentlichkeit begründen. In der Regel wird von der Öffentlichkeit ein Nachweis erwartet, dass die jeweiligen Schiffssicherheitsregeln ein mögliches Sicherheitsrisiko in einem akzeptablen Rahmen halten. Insofern befinden sich einige Schifffahrtsverwaltungen in einer prekären Lage. Auf der einen Seite sollen sie einen glaubhaften Nachweis zur Reduzierung der Sicherheitsrisiken bringen. Auf der anderen Seite haben sie aber nicht immer die nötigen Erkenntnisse darüber, woraus die Risiken denn resultieren, wie das Beispiel der hier angeführten Unfallstudien zeigt. So ist es nicht verwunderlich, dass Schifffahrtsverwaltungen auf Alternativen bei der Risikoabschätzung zurückgreifen müssen. Sind diese Alternativen jedoch immer geeignet, zuverlässige Aussagen über die Risiken in der Schifffahrt zu treffen? Die folgenden Beispiele mögen verdeutlichen, dass das nicht immer vollständig zu erreichen ist.

Die Hafenstaatkontrolle ist ebenfalls das Ergebnis eines schweren Unfalls in der Schifffahrt, dem Festkommen und der anschließenden Ölkatastrophe der »Amoco Cadiz« im März 1978 (gilt nur für das Paris Memorandum of Understanding, MoU). Nachdem sich ursprünglich 27 europäische Staaten und Kanada geeinigt hatten, im Rahmen des »Hague Memorandum« bei der Durchsetzung der ILO-Konvention 147 zusammenzuarbeiten, wurde das Mandat nach diesem Unfall fundamental geändert und erstreckt sich nunmehr auch auf die wichtigsten IMO-Konventionen, wie z. B. SOLAS, MARPOL, LOAD LINE usw. Grundgedanke war dabei, dass ein bestimmter Prozentsatz aller Schiffe (selbst solche, die in Staaten registriert sind, die eine bestimmte Konvention nicht ratifiziert haben), die einen Hafen im Gebiet eines MoU anlaufen, einer Hafenstaatkontrolle unterzogen werden. Wenn das Schiff keine Mängel aufweist, bleibt es eine Weile von weiteren Kontrollen ausgespart. Weist ein Schiff jedoch Mängel auf, wird die Häufigkeit der Kontrollen erhöht.

Da speziell die ILO-Konvention 147 einen Einfluss auf viele menschliche und organisatorische Faktoren hat, müsste man erwarten können, dass durch Hafenstaatkontrollen eine nachweisliche Verbesserung der Schiffssicherheit eintritt. Sabine Knapp stellt die Behauptung auf, dass jede Hafenstaatkontrolle das Risiko eines schweren Unfalls um 5 bis 10 % verringert. Das hat bei den Verwaltungen natürlich Hoffnungen geweckt, auch ohne detaillierte Datenerhebung im Bereich der menschlichen und organisatorischen Faktoren, das Unfallrisiko deutlich reduzieren zu können.

An dieser Stelle soll gar nicht bestritten werden, dass die Hafenstaatkontrollen einen positiven Effekt auf die Schiffssicherheit haben. Allerdings ist dieser Effekt begrenzt und lässt sich durch eine weitere Erhöhung der Kontrollen nicht beliebig steigern. Gerade den Bereich der organisatorischen Faktoren kann die Hafenstaatkontrolle jedoch nur bedingt beeinflussen. Die Hafenstaatkontrolle überprüft hauptsächlich, inwieweit die technischen Sicherheitsstandards auf einem bestimmten Schiff erfüllt sind. Bei den menschlichen und organisatorischen Faktoren sind Kontrollen in wichtigen Bereichen nicht Teil des Mandats. Es obliegt der Hafenstaatkontrolle z. B. nicht, eine detaillierte Überprüfung des Ausbildungsstandes der Besatzungen vorzunehmen. Sie überprüft auch nicht, inwieweit die unterschiedlichen Besatzungsmitglieder an Bord zusammenarbeiten können und wollen (z. B. als Folge der unterschiedlichen geographischen Herkunft). Während einer Hafenstaatkontrolle kann auch nicht geprüft werden, wie das Verhältnis zwischen land- und schiffsseitiger Organisation ist.

Diese kurze Liste von Punkten könnte hier noch weiter ausgedehnt werden. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls sagen, dass die Hafenstaatkontrolle zwar eine sehr wichtige Funktion bei der Durchsetzung der Schiffssicherheitsstandards zu erfüllen hat, für detaillierte Betrachtungen der Einflüsse organisatorischer Faktoren im Schiffsbetrieb jedoch nur sehr eingeschränkt Ergebnisse bringt.

Bewertung von Kollisionsrisiken bei marinen Projekten

Das zweite Beispiel ist die gegenwärtige Praxis der Bewertung von Kollisionsrisiken in Planungsverfahren bei marinen Projekten. Eine zentrale Aufgabe bei der Planung von Veränderungen des Fahrwassers und der damit verbundenen Verkehrsströme, z. B. durch Brücken oder Windparks, ist die Abschätzung, inwieweit dadurch ein höheres Kollisionsrisiko ausgelöst wird und durch welche kompensierenden Maßnahmen es im akzeptablen Bereich gehalten werden kann oder soll. Für die Abschätzung dieses Risikos sind eine Reihe von Verfahren über die Jahre erarbeitet worden. Eine zentrale Frage in allen diesen Verfahren ist die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass auf einem Schiff ein Kollisionsrisiko nicht erkannt und demzufolge der Kurs nicht geändert wird. Um speziell diese Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, haben die ältesten Modelle Beobachtungen der Verkehrsströme verwandt, ohne näher auf menschliche oder organisatorische Faktoren einzugehen. Später ist bei anderen Modellen versucht worden, menschliche Faktoren einzubeziehen. Allerdings lehnen sich alle diese Modelle nicht an etablierte Modelle zur Erklärung des Einflusses menschlicher oder organisatorischer Faktoren an und beziehen meistens nur einige wenige individuelle Faktoren zur Beschreibung der Leistung des Wachoffiziers auf der Brücke mit ein. Durch mathematische Modellierung der Kollisionseintrittswahrscheinlichkeit mit Hilfe von Bayes’schen Netzen sind gelegentlich auch organisatorische Faktoren mit in die Berechnung eingeflossen. Allerdings handelt es sich hier häufig nur um vereinzelte Expertenannahmen, die in individuellen Studien weiter überprüft und auch in ihrer Gesamtanzahl weiter verdichtet werden sollten, um die gegenwärtig noch herrschende Subjektivität dieser Studien weiter zu reduzieren. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass es aus Sicht der Autoren nicht besonders hilfreich ist, dass die Diskussion über die Verfahren zur Bewertung der Kollisionsrisiken und die damit einhergehenden Annahmen nicht besonders transparent geführt werden. Es gibt immerhin deutliche Hinweise, dass die von den unterschiedlichen Gutachtern verwendeten Verfahren zum Teil recht stark voneinander abweichende Einschätzungen liefern. Das gilt auch für die Quantifizierung des Einflusses kompensierender Maßnahmen zur Reduzierung des Kollisionsrisikos (z.B. Reduzierung des Kollisionsrisikos durch Anwesenheit eines Lotsen oder durch das Fahren in einem Seegebiet mit VTS), wo weiterer Untersuchungsbedarf besteht.

Systematische Erfassung der Einflussfaktoren vorantreiben

Die beiden oben genannten Beispiele stehen stellvertretend für eine Reihe von Fragen der Schiffs- und maritimen Verkehrssicherheit, die momentan nicht umfassend beantwortet werden können. Was also bleibt, ist die Notwendigkeit, menschliche und organisatorische Faktoren weiter zu studieren, so unbequem und zeitaufwendig das auch sein mag. Es sind schließlich der Mensch und die von ihm geschaffenen Organisationsstrukturen, die über das Sicherheits­niveau in der Schifffahrt maßgeblich entscheiden. Auch wenn Unfalldaten in die Zukunft gerichtete Unfallprognosen nicht unbedingt bestens unterstützen, können sie jedoch gerade im menschlichen und organi­satorischen Bereich Wissenszuwächse generieren, die sich in weiteren Simulationsstudien vertiefen ließen. Das setzt allerdings voraus, dass durch die Unfalluntersuchungsstellen ein Prioritätenwechsel vorgenommen wird. Erik Hollnagel beschreibt die Fokussierung bei der Unfalluntersuchung mit dem Kürzel WYLFIWYF (What you look for is what you find). Das bedeutet, nur wenn die systematische Erfassung der menschlichen und organisatori­schen Einflussfaktoren weiter vorangetrieben wird, können diese Parameter mit der notwendigen Genauigkeit und Zuverlässigkeit in die technische Bewertung von Schiffssicherheitsstandards mit eingehen. Außerdem wird nur so ersichtlich, welchen Einfluss der ISM-Code auf die Herausbildung einer Sicherheitskultur in der Schifffahrt hat. Die Effekte des ISM-Codes werden schließlich immer noch kontrovers diskutiert. Der gesetzliche Spielraum ist vielfach ja schon vorhanden und wird durch die Veränderung der Schwerpunkte bei der Unfalluntersuchung im Rahmen der IMO- und EU-Vorgaben auch auf internationalem Gebiet in naher Zukunft weiter in diese Richtung gehen. Es kommt dann allerdings auch darauf an, das gesetzliche Mandat zu erfüllen.

Ein in diesem Zusammenhang wesentlich erschwerender Umstand in der gesamten Diskussion ist das Fehlen von international verbindlichen Richtlinien bezüglich der Ausbildung von Unfalluntersuchern. Der aktuelle IMO-Code für die Unfalluntersuchung gibt im Unterschied zu seinem Vorläufer keine Schwerpunkte bei der Untersuchung von menschlichen und organi-

satorischen Faktoren. Auch die EU hat sich in ihren Richtlinien dieses Themas nicht sonderlich angenommen, wenngleich die vorgeschlagene Datenbankstruktur für die Unfallauswertung der EU-Mitgliedsstaaten mit Schifffahrtsaktivitäten über die bisherige Praxis im Rahmen der IMO hinausgeht. Allerdings handelt es sich bei den dort zugrundeliegenden Modellen und Datenstrukturen um Verfahren, die bislang nicht in großem Maße international erprobt sind. Daher bleibt abzuwarten, inwieweit in naher Zukunft weitere Anstrengungen unternommen werden, mehr Licht in die Thematik menschlichen Fehlverhaltens und die dabei zugrundeliegenden organisatorischen Faktoren zu bringen.

Dr. Jens-Uwe Schröder-Hinrichs, Dr. Michael Balsauf, Dr. Kevin T. Ghirxi, Stephan Assheuer