Print Friendly, PDF & Email

Das volle Ausmaß der Hafenexplosion in China wird nun deutlich. Die Transportversicherungsbranche ist alarmiert – schafft es aber nicht, die Prämien anzuheben.
Mit der Simulation und Modellierung von Großschäden müht sich die Versicherungswirtschaft schon seit Jahren ab. Auch im Transport- und Schifffahrtsbereich[ds_preview], nachdem der Wirbelsturm »Sandy« 2012 Milliardenwerte in den Seehäfen und Logistikzentren Nordamerikas wegfegte. Die Konzentration von Frachtgut in den Häfen hat im Zuge der Globalisierung derart zugenommen, dass einzelne Schadensereignisse die Assekuranz fast in die Knie zwingen können (»Kumulrisiken«). Dass alle Modelle bislang zu kurz gegriffen haben, zeigen die Explosionen im Hafen von Tianjin im vergangenen August.

Das Unglück, bei dem über 170 Menschen ums Leben kamen, wird nach aktuellen Schätzungen Schadenersatzforderungen von bis zu 6Mrd. $ nach sich ziehen. Rund die Hälfte davon dürfte in den Büchern der Transportversicherer landen, wie Vertreter der International Union of Marine Insurance (IUMI) jüngst in London erklärten. Damit handele es sich um den größten Einzelschaden in der Geschichte der Transportversicherung.

Als Haupthafen für das Ballungsgebiet Peking und mit einem Gesamtumschlagaufkommen von rund 450Mio. t gilt Tianjin als drittgrößter Seehafen weltweit. Allein 40% des Ex- und Imports von Fahrzeugen in China wird über den Umschlagplatz in der Bohai-Bucht abgewickelt, der zudem als wichtige Drehscheibe für Güter aus der Elektronik-, Pharma- und Chemiebranche gilt.

Dem offiziellen Untersuchungsbericht zufolge wurden durch die Detonationen und Brände, die von einem Gefahrgutlager des lokalen Logistikdienstleisters Ruihai Logistics ausgingen, fast 12.500 Fahrzeuge, 7.500 Container und mehr als 300 Gebäude beschädigt.

Mindestkapitaldecke gefährdet

Für einzelne Transportversicherer könnte die Höhe der Schadenersatzforderungen die Mindestkapitaldecken laut Solvency II gefährden, warnte Patrizia Kern-Ferretti, Vorsitzende des Statistikkomitees der IUMI. Bei der Bearbeitung und Regulierung der Schäden stünden die Gesellschaften vor »nie dagewesenen Herausforderungen«, weil Schadensexperten und Gutachter über viele Wochen hinweg keinen Zutritt zum Katastrophengebiet bekommen hatten. Als die Behörden die Zugangssperre aufhoben, war ein Großteil der beschädigten Güter und Geräte bereits weggeräumt. »Folglich mussten alle versicherten Güter einschließlich Fahrzeuge und Container als Totalverlust verbucht oder die Schäden anhand forensischer Berichte geschätzt werden«, so Kern-Ferretti.

Ein Weckruf für die Versicherer

Für die Versicherer sei das Unglück ein Weckruf, noch mehr in die Modellierung von Risiken zu investieren. »Obwohl die Transportversicherung die älteste Versicherungssparte ist, hinkt sie bei der Erfassung von Daten und Ladungsrisiken während des Transits hinterher«, untertrich die Expertin. Kurzfristig bleibe der Versicherungswirtschaft nur übrig, die hohen Verluste in Folge der Tianjin-Explosionen durch erhöhte Prämieneinnahmen zu kompensieren. Allerdings sind die Ergebnisse bislang ernüchternd.

In der Transportrückversicherung, in der sich die Risikodeckungen der Erstversicherer für Warentransport, Schifffahrt und Offshore-Energieförderung konzentrieren, seien die Prämienraten zu Jahresbeginn »in nahezu allen Sparten und Regionen zurückgegangen«, berichtet die Hannover Rück – »trotz erheblicher Großschäden, von denen das Explosionsunglück im Hafen von Tianjin das teuerste war«. Als Konsequenz daraus habe sich der Konzern »im Transportgeschäft zurückgezeichnet, so dass sich das Prämienvolumen um 8,9% reduziert habe«, heißt es.

Risikoanalysen eingefordert

Unterdessen hat die chinesische Regierung ein Bündel von Maßnahmen und Gesetzesverschärfungen auf den Weg gebracht, um die Sicherheit in den Häfen und im Warenverkehr zu verbessern. Unternehmen, die Gefahrgut lagern oder transportieren, müssen chinesischen Medienberichten zufolge bis Ende März umfassendere Risikoanalysen durchführen und Notfallpläne entwickeln. Zudem sollen die Behörden elektronisch Zugriff auf Sicherheitsmanagementsysteme in den Betrieben bekommen.

Inwieweit die Maßnahmen wirklich fruchten, hängt wohl auch von Erfolgen bei der Bekämpfung der Korruption ab. Laut Untersuchungsbericht konnte der Logistikdienstleister Ruihai Logistics, der für die Kettenreaktion verantwortlich war, trotz erheblicher Sicherheitslücken alle nötigen Zertifikate und Genehmigungen vorweisen. Insgesamt müssen sich mehr als 20 Personen vor dem Strafgericht für das Unglück verantworten – neben Managern von Ruihai auch Mitarbeiter von Sicherheits- und Planungsbehörden.
Michael Hollmann