Effizientere Logistik, Vermeidung von Staus, Fehlern und redundanter Kommunikation – das heißt Digitalisierung in der Schifffahrt. Der Container bleibt der gleiche. Bei der der zweitgrößten Linienreederei der Welt will man mit eigenen Projekten die Umwälzung überkommener Prozesse mitgestalten, bevor es andere tun. Von Felix Selzer

Die Schifffahrt sei in ihrer Geschichte der technologischen Entwicklung an Land meist eine Evolutionsstufe hinterher, meinen Kritiker: Als an Land[ds_preview] die Dampfmaschine ratterte, wurde auf See noch gesegelt, während in den Wohnzimmern bereits elektrisches Licht brannte, fuhren die Schiffe mit Dampf. »Aber seit wir den Mikroprozessor an Land haben, haben wir mit dem Seecontainer eine ähnliche Revolution in der Schifffahrt erlebt. Wir haben kleine, verladbare Einheiten bekommen und waren damit in gewisser Weise gleichgestellt. Warum sollte jetzt die Entwicklung an uns vorbeigehen?«, sagt Hubert Hoffmann, CIO und CDO der Reederei MSC, im Gespräch mit der HANSA.

Wenn er ein Schifffahrtslehrbuch von 1937 aufschlage, sehe er im Prinzip keinen Unterschied zu 2017, das gelte für das Bill of Lading (B/L) genau wie für das Cargo Manifest oder den Stauplan. Wo früher per Hand die Ladung eingezeichnet wurde, gibt es heute Computerprogramme, in denen die Eintragung gemacht wird. Elektronisch zwar, aber nicht vernetzt, nicht intelligent.

»Die Welt sieht heute aber anders aus«, sagt Hoffmann und gibt ein Beispiel: »Bei einem Schiff mit 19.000TEU verladen wir 13.000TEU, 6.5000 rauf, 6.500 runter. 4.800 sind Transshipmentladung, bleiben 5.000TEU die per Lkw kommen und gehen, 3.000 per Zug und 160 per Binnenschiff. Wenn die Ladeluke aufgeht, setzten wir 3.200 Lkw, 40 Ganzzüge, zwei Binnenschiffe und die Feederschiffe in Bewegung – mit dem Mindset von 1937. Wir müssen heute ganz anders denken, uns fragen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind.« Wenn man nicht schnell zu neuen Lösungen komme, könnten andere schneller sein. Deshalb will MSC lieber ganz vorne dabei sein, wenn Prozesse in der Branche umgekrempelt werden.

Ob er im Zuge der Digitalisierungsdebatte den Eintritt von Amazon in die Schifffahrt fürchtet? »Man kann nicht voraussagen, was die tatsächlich machen würden. Aber klar ist: es wird dann nicht Schifffahrt wie 1937 sein«, sagt Hoffmann. Er sieht Beispiele wie Amazon eher als gute Gelegenheit für Gedankenexperimente: Was würde der andere tun, wie würde der Digital-Konzern Schifffahrt heute angehen? So lassen sich Ansätze für Veränderungen im eigenen Geschäft finden, um zur Logistik 4.0 zu kommen.

Doch wie kann diese neue Logistik aussehen? Ob man nun per Brief, Fax, Email, EDI oder sonst wie Daten austausche, der Prozess bleibe der gleiche, jede Änderung erfordere einen neuen Austausch, sagt Hoffmann. »Ich muss immer dafür sorgen, dass der andere auf dem aktuellen Stand ist. Daher einfach einmal umdenken: Der Partner soll sich die aktuellen Daten zu dem Zeitpunkt nehmen, zu dem er sie braucht. Austausch muss es nur noch in Ausnahmefällen geben.«

Um solche Ansätze in der Realität auszuprobieren, machte sich MSC auf die Suche nach Partnern. Das B/L sollte digitalisiert werden. Bisher kamen die Daten zu 90 % elektronisch per EDI oder Webeingabe, ein kleiner Teil in Papierform. »Es wurde ein Draft BL erstellt, das ging wieder an den Kunden, der hat einen Fehler festgestellt, es ausgedruckt, den Fehler markiert, es gescannt, zurückgeschickt und auf die Korrektur gewartet. Das ist nicht zeitgemäß«, urteilt der IT-Experte. Die Daten wurden daher einfach in die Cloud gelegt. Der Kunde bekommt nun einen Link, kann das Dokument ansehen, die Daten bearbeiten und dann sein Draft BL selbst generieren. Natürlich habe es Beschwerden gegeben, dass man damit Arbeit auf Kunden abwälze. »Genau das Gegenteil ist der Fall«, kontert Hoffmann. Letztlich habe jeder den Zeitgewinn erkannt.

Um noch mehr Nutzen aus der Cloud-Lösung zu ziehen, kann das B/L in gleicher Weise auch mit anderen beteiligten Partnern geteilt werden. Eine kleines Umdenken und die Nutzung moderner IT-Lösungen erwiesen sich als Erfolg. Die Reederei konnte sogar die Jury des Digital Leader Awards von dem Projekt überzeugen.

National digital

Das nächste Projekt zu dem Thema widmet sich der Frage nach der Kommunikation aller an der Transportkette Beteiligten – Reeder, Kunden, Transporteur, Umschlag, Behörden. »Alle Daten, die sie austauschen, stehen im Prinzip im BL. Wer von denen hat dann eigentlich den aktuellen Stand?«, fragt Hoffmann.

Mittlerweile ist das National Single Window (NSW) implementiert, das laut EU-Vorgabe alle Meldungen eines Reeders an die staatlichen Stellen kanalisieren soll. Daten zu administrativen Pflichtmeldungen müssen so nur einmal abgegeben werden. »Das hat aber nichts daran geändert, dass der übrige Austausch zwischen den Beteiligten weiterhin stattfindet«, sagt Hoffmann. Mehrfachmeldungen und unterschiedliche Datenformate können letztlich immer noch zu Fehlern und Inkonsistenzen führen.

»Die Hafenanmeldung wird nur bei den Behörden gemacht, die anderen in der Transportkette, Terminals und Logistiker, wissen da noch nicht, wie sie ihre Vorplanung machen müssen, wann sie Fahrzeuge bereitstellen müssen etc., obwohl die Daten gemeldet wurden. Dieses System schreit also auch nach einer Veränderung«, meint Hoffmann. Was wäre, wenn man das NSW in das Zentrum der Kommunikation aller Partner stellte? Warum dürfen nicht alle diese Daten, die ohnehin gemeldet wurden, von allen abgegriffen werden?

Das könne insbesondere im Weitertransport der Container helfen, wenn alle schon im Voraus über Containermengen, Verified Gross Mass (VGM) etc. Bescheid wüssten. »Das heißt ja nicht, dass jeder alles darf, es muss Sicherheitsmechanismen geben. Aber jeder mit einem berechtigten Interesse muss Zugriff bekommen«, so Hoffmann.

MSC hat diesen Gedanken als Projekt »NSW-Plus« dem Bundesverkehrsministerium (BMVI) für eine Förderung im Rahmen des »mFUND« vorgeschlagen und den Zuschlag erhalten. Das Förderprogramm stellt seit 2016 Mittel im Gesamtumfang von 150Mio. € für digitale, datenbasierte Innovationen und Ideen für die Mobilität 4.0 zur Verfügung.

Die Vision von NSW-Plus liegt nun darin, das bestehende NSW für Deutschland um sicherheitsrelevante und operative Daten zu maritimen Transporten anzureichern. Im Ergebnis soll eine neue Dienstleistung der Wirtschaft erhebliche Vorteile bieten. Auf der Basis inhaltlich/fachlicher, rechtlicher und technischer Konzepte werden im Zuge des Projekts Pilotanwendungen zur Integration von Ladungsdaten Import/Export, verifizierten Bruttogewichten sowie Vor-/ Nachlaufinformationen umgesetzt und unter möglichst realistischen Bedingungen erprobt.

Hoffmann denkt noch einen Schritt weiter, schließlich gibt es das NSW für jedes einzelne EU-Land: »Warum tauschen die Länder die Daten nicht aus?« Viele Informationen könnten so schon vorausgeschickt werden. NSW-Plus soll daher als Blaupause für andere europäische Länder dienen.

Koordiniert wird das Projekt, das von September 2017 bis zum August 2018 läuft, vom Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL) Bremen. Bei Kosten von 3,5Mio. € übernimmt das BMVI 65%. Als Partner sind neben MSC die Unternehmen BESITEC Bertling EDI Service & IT, TFG Transfracht, datenschutz cert und BSH Hausgeräte beteiligt.

»Das ist im Prinzip unsere Denkrichtung für den Digitalisierungsansatz: Welche Daten landen bei wem und was könnte man damit tun, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle sind? Natürlich können dabei auch Geschäftsmodelle in Gefahr geraten, aber das sind sie heute ohnehin«, sagt Hoffmann.
Felix Selzer