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Der Fall »Tommi Ritscher« wird zu einem Entführungsfall. Nachdem afrikanische Militärs an Bord des vor wenigen Tagen von Piraten gekaperten deutschen Schiffs gingen, fanden sie offenbar nur einen Teil der Crew vor. 

[ds_preview]Nach Ansicht des Branchendienstes Dryad gibt es in dem Fall jedoch noch einige Unwägbarkeiten. Klar scheint aber zumindest, das eine binationale Militäreinheit an Bord des 4.957-TEU-Schiffs ging. Die Spezialkräfte sollen aus Nigeria – dem Ursprung der Piraterie im ganzen Golf von Guinea – und Benin stammen. In dessen Gewässern war der Containerfrachter der in Jork ansässigen Reederei Gerd Ritscher überfallen worden.

Als die Sicherheitskräfte sich dem Schiff näherten, soll es keinen Widerstand gegeben haben, die Piraten hatten den Frachter bereits wieder verlassen, von ihnen fehlt allerdings jede Spur – ebenso wie von acht Crew-Mitgliedern. Die elf in der Zitadelle verschanzten Seeleute konnten befreit werden, die übrigen acht hatten es bei der Kaperung nicht geschafft, sich in Sicherheit zu bringen, heißt es. Die Dryad-Analysten gehen gegenwärtig davon aus, dass die acht Männer an Land verschleppt wurden.

»Dies ist ein höchst ungewöhnlicher Vorfall, für den es nur zwei rationale Begründungen gibt, um die Abwesenheit der Besatzung zu erklären«, so ein aktualisierter Fallbericht. Entweder seien frühere Berichte über die Täter, die auf dem Schiff zurückgelassen wurden, falsch und die acht Besatzungsmitglieder seien bereits in der Frühphase entführt wurden. Oder die Täter und ihre Opfer waren später in der Lage, das Schiff zu verlassen und zu entkommen. Analysen deuten darauf hin, dass das nigerianische Marineschiff »NNS Ose« am Morgen des 20. April vom Tatort zum Marinestützpunkt Cotonou abfuhr und bald darauf zurückkehrte. Während dieser Zeit soll »Tommi Ritscher« allerdings von Marineschiffen aus Benin beobachtet worden sein.

»Angesichts der bedeutenden Militärpräsenz in der Nähe des Schiffes würde es als schwerwiegender operationeller Fehler angesehen, wenn die Täter fliehen könnten, und daher wird es als realistische Möglichkeit eingeschätzt, dass die Kommunikation innerhalb der Zitadelle nicht korrekt war und dass die Täter in einem frühen Stadium des Angriffs mit acht Besatzungsmitgliedern fliehen konnten«, so die Schlussfolgerung bei Dryad.

Es wird als »sehr wahrscheinlich« eingeschätzt, dass die Täter aus Nigeria, insbesondere aus der südlichen Deltaregion, stammten. Man geht davon aus, dass sie wussten, dass Benin infolge der Corona-Pandemie die Entscheidung getroffen hatte, keine Wachen mehr an Bord der vor Anker liegenden Schiffe zu stellen.

Hintergrund

Ausgangspunkt der Piraterie-Entwicklung in der Region ist Nigeria, wo sich »normale« Piraterie mit politischen und zum teil terroristischen Aktivitäten vermischt. Auch die Nachbarstaaten von Nigeria sind jedoch von dem Problem betroffen, weil die Piraten immer wieder auf deren Gewässer ausweichen, wenn Nigeria seine Bemühungen – meist nur zwischenzeitlich – intensiviert.

In Westafrika nehmen Entführungen von Seeleuten durch Piraten immer mehr zu. Während die Angreifer es früher zumeist auf die (Öl-)Ladung von attackierten Tankern abgesehen hatte, ist ein Wechsel in der Strategie zu beobachten. Dabei handelte es sich – zumindest in der Vergangenheit – nicht selten um Aktionen von Rebellen, die gegen die Ölindustrie und deren Auswirkungen für die Gesellschaft sowie die grassierende Korruption vorgehen wollen. Es wird festgestellt, »dass diese Gruppe die Grenzen der Überwachung durch nationale Sicherheitsbehörden kennt«. Die Piraten hätten es auf Transporte für und von der Ölindustrie in der Region abgesehen.