Schiffe, Horizont
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In der Finanzkrise nach der Lehman-Pleite wurde der LTAV als alternative Methode zur Ermittlung des langfristigen Ertragspotenzials neben dem Marktwert geschaffen. Aber auch im aktuellen Marktaufschwung liefert dieses Verfahren aufschlussreiche Ergebnisse

In diesem Sommer der Rekorde auf dem Containermarkt scheint die Finanzkrise de[ds_preview]s Jahres 2008 nur noch wie eine ferne Erinnerung. Die Pleite der Lehman-Bank stürzte die weltweiten Finanzmärkte in tiefes Chaos. Auch auf den Schifffahrtsmärkten ging von einem Tag auf den anderen praktisch nichts mehr. Transaktionen am An- und Verkaufsmarkt kamen nahezu völlig zum Erliegen und eine realistische Bewertung von Schiffen wurde faktisch unmöglich.

In diesem Kontext fand sich in Hamburg eine Gruppe von Praktikern aus der Schifffahrt, darunter das Ingenieurbüro Weselmann, um eine alternative Bewertungsmethode zu entwickeln, die auch in massiv gestörten Märkten anwendbar und gleichzeitig transparent und nachvollziehbar sein sollte. 2009 dann wurde der Long Term Asset Value (LTAV) der Taufe gehoben. Der Grundgedanke war und ist, neben dem naturgemäß stark schwankenden und zeitweilig auch gar nicht ermittelbaren Marktwert das langfristige Ertragspotenzial in den Blick zu nehmen.

Damit war es möglich, auch in einer Zeit des völligen Stillstands und einer extremen Unsicherheit im Markt, auf transparenten und nachvollziehbaren Parametern basierende Schiffswerte zu ermitteln.

Nun könnte die Situation heute im Container- und auch im Bulkermarkt kaum unterschiedlicher sein als damals auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. Hat der LTAV in einem endlich wieder boomenden Markt als Bewertungsmethode überhaupt noch Relevanz? Als Ingenieurbüro Weselmann meinen wir: Gerade jetzt kann der LTAV sogar ein sehr wertvolles Tool sein.

Es gab in der Vergangenheit immer wieder die Unterstellung, der LTAV diene eigentlich nur dazu, Schiffswerte schön zu rechnen. Das war nie ganz korrekt, auch wenn natürlich tatsächlich über viele Jahre die LTAV-Werte signifikant über den jeweiligen Marktwerten lagen. Zunächst einmal ging es darum, in einer Zeit der Agonie überhaupt Werte ermitteln und belegen zu können. Ein solches Szenario, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen, zeichnet sich im Containermarkt auch heute ab, da die Verfügbarkeit kurzfristig charterfrei lieferbarer Tonnage derzeit rapide sinkt. In Teilsegmenten könnte eine realistische Bestimmung von Marktwerten trotz der hohen Nachfrage schon sehr bald unmöglich werden, weil Tonnage schlicht nicht mehr zur Verfügung steht.

Der Marktwert eines Assets ist immer und notwendigerweise eine Momentaufnahme, die schon wenige Wochen später völlig überholt sein kann, zumal in einem so volatilen Umfeld wie der Schifffahrt. Der LTAV ermöglichte und ermöglicht den Blick weg von der Momentaufnahme hin zum langfristigen Ertragspotenzial des Schiffes. Der Methodik zugrunde liegt ein Nettobarwert- oder Discounted Cash Flow-Verfahren, wie sie branchenübergreifend seit Jahrzehnten zum Einsatz kommen. Hierbei wird der heutige Wert der erwarteten Chartereinkünfte, basierend auf historischen Durchschnittswerten, über die Restlebensdauer des Schiffes mittels eines festgelegten Abzinsungsfaktors berechnet.

Dadurch lassen sich Übertreibungen des Marktes in beide Richtungen identifizieren. Es dürfte auf der Hand liegen, dass ein LTAV-Wert deutlich unterhalb des Marktwertes zumindest einen deutlichen Hinweis auf einen überhitzten Markt und ein überbewertetes Schiff geben kann. Der Blick auf das langfristige Ertragspotenzial kann daher helfen, teure Fehler zu vermeiden.

Wo also stehen wir nun heute?

Gegenstand der näheren Betrachtung sind zwei Marktsegmente – der Container- und der Bulkermarkt – sowie jeweils vier Schiffstypen. Dafür wurden LTAV unter verschiedenen Annahmen berechnet und in Relation zum Marktwert gesetzt. Alle Berechnungen beziehen sich auf den Stichtag 30. Juni. Im Containerbereich wurden beispielhaft folgende Schiffe ausgewählt und bewertet:Fin Weselm 1

Berechnet man nun den LTAV mit der aktuellen 12-Monatscharter für das erste Jahr und dem 15-Jahres-Durchschnitt der 12-Monatscharter kommt man auf folgende Werte:Fin Weselm 2

Demnach läge also der Ertragswert der Schiffe lediglich bei durchschnittlich rund 70 % des aktuellen Marktwerts. Haben wir also tatsächlich einen deutlich überhitzten Markt und entsprechend überbewertete Schiffe? Hierzu muss man berücksichtigen, dass in den letzten Monaten nicht nur Marktpreise und kurzfristige Charterraten dramatisch gestiegen sind, sondern auch die Laufzeit der abgeschlossenen Chartern. Die Jahrescharter ist heute eher die Ausnahme als die Regel, da Schiffe regelmäßig für drei oder auch fünf Jahre geschlossen werden – und zwar zu Raten weit oberhalb der langfristigen Durchschnittswerte.

Es erscheint also angemessen, eine 5-Jahres-Charter und erst nach deren Ablauf eine Rückkehr zu dem langfristigen Durchschnittswert anzunehmen. Das Ergebnis sieht wie folgt aus:

Fin Weselm 3

Während der LTAV auch in diesem Szenario unterhalb des aktuellen Marktwerts liegt, hat sich der Abstand deutlich im Durchschnitt auf 6,5 % verringert. Am größten ist die Differenz beim klassischen Panamax mit rund 12 %, wohingegen bei dem mittlerweile 14 Jahre alter Sub-Panamax Markt- und Ertragswert fast exakt zusammenlaufen.

Die Feststellung, dass die Assetpreise im Containersektor bereits ein sehr hohes Niveau erreicht haben, ist sicher wenig überraschend. Eine völlige Abkoppelung von den Ertragswerten lässt sich allerdings bisher nicht feststellen. Ein hoher Grad an Vorsicht ist bei Investitionen im Containersektor im heutigen Marktumfeld jedoch mit Sicherheit ratsam.

Kritisch ist hier vordergründig die Bewertung des Ausfallrisikos der abgeschlossenen längerfristigen Charterverträge. Es ist wichtig zu betonen, dass es – anders als beispielsweise im Bulkerbereich vor der Finanzkrise – im Wesentlichen um etablierte Akteure mit eigenen, derzeit extrem profitablen Linienverkehren geht. Dennoch kann in Anbetracht der ständig wachsenden Verbindlichkeiten der Linienreedereien dieses Risiko nicht völlig ausgeblendet werden. Weiter wäre zu berücksichtigen, dass mittelfristig in Anbetracht der stark angestiegenen Zahl von Neubestellungen wieder mit einem deutlich höheren Flottenzulauf zu rechnen ist.

Bulker unter dem Radar?

Wenden wir uns nun dem Segment der Bulk Carrier zu. Wenn auch die Entwicklung weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat als der Containermarkt, so waren auch hier in den letzten Monaten stark steigende Schiffswerte und Charterraten zu beobachten. Folgenden Schiffstypen wurden ausgewählt und bewertet:

Fin Weselm 4

Bei der Festlegung der Parameter zur Berechnung des LTAV ist insbesondere die anzuwendende Durchschnittscharter entscheidend. Legt man eine 10-Jahres-Charter zugrunde, liegt der LTAV rund 14 % unterhalb der heutigen Marktwerte.

Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass die Märkte der letzten zehn Jahre von erheblichen Überkapazitäten geprägt waren, die mittlerweile weitgehend abgebaut sind. Es wird deshalb heute oft der 15-Jahres-Durchschnitt gewählt, aber auch das führt wiederum zu Verzerrungen. Denn dabei fließen die extrem hohen Werte der Jahre 2007 und 2008 ein, die so wahrscheinlich nie wieder erreicht werden.

Wir haben uns deshalb dafür entschieden, einen 15-Jahres-Durchschnitt unter Ausschluss der Jahre 2007 und 2008 zu bilden, also aus den Jahren 2004–2006 und 2009–2020. Dabei ergibt sich folgendes Ergebnis:

Fin Weselm 5

Wenig Auffälligkeiten

Dem verhältnismäßig konservativen Ansatz zum Trotz zeigt sich deutlich, dass wir es – historisch gesehen – bisher nicht mit auffällig hohen Schiffspreisen im Bulkermarkt zu tun haben. Der LTAV liegt, über die verschiedenen Segmente betrachtet, etwa 41 % über den aktuellen Marktwerten, was suggeriert, dass weitere Wertsteigerungen im Rahmen des Möglichen liegen. Das ist auf den ersten Blick verblüffend, lässt sich aber plausibel erklären.

Denn die Schiffswerte kommen von einem sehr niedrigen Niveau. Bis weit in das erste Quartal des Jahres 2021 hinein bewegten sich die Asset-Preise kaum vom Fleck, obwohl der Chartermarkt schon geraume Zeit eine deutliche Erholung zeigte. Das lässt sich durch das zu dem Zeitpunkt hohe Angebot an Tonnage erklären. Das kam einerseits durch den Verkauf der Scorpio-Flotte zustande als auch andererseits durch japanische Reeder, die traditionell Schiffe auf Basis einer längerfristigen Beschäftigung ordern und dann typischerweise nach zehn Jahren am Secondhand-Markt verkaufen.

Bei den erheblichen Wertsteigerungen seit dem Frühjahr handelt es sich also zumindest teilweise um Nachholeffekte. Zudem dürfte sich bei Bulkern die Flottenentwicklung noch über einige Zeit sehr moderat gestalten, da in den letzten Jahren sehr wenig bestellt wurde und die meisten Neubauwerften inzwischen über Jahre mit dem Bau von Containerschiffen ausgelastet sind. Es ist allerdings weiter mit einer hohen Volatilität in diesem Segment zu rechnen.

Autorin: Christiane Wittig, Chief Analyst, Ingenieurbüro Weselmann
E-Mail: valuation@weselmann.de