470 Jahre geschafft

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Schon die Einladung zur Bremer Schaffermahlzeit ist besonders: Nicht nur, dass man sie als Normalsterblicher nur einmal im Leben erhält[ds_preview]. Nein, sie kommt auch in einem außerordentlichen Gewand daher: Der Umschlag mit rotem Wachs versiegelt, steht in geschwungener Schrift auf edlem Briefpapier geschrieben, dass sich die drei Schaffer beehren, zu einem um »14 ½ Uhr angesetzten einfachen Mittagessen (…) ergebenst einzuladen, woselbst die altbewährte Verbindung von Kaufleuten und Schiffern festlich begangen werden möge«.

Wer seine – selbstverständlich zusagende – »gütige« Antwortgeben hat und dann nach dem mittäglichen Empfang im Haus Schütting in seinem etwas ungewohnt anmutenden Frack über den Rathausplatz geht, an Schaulustigen, fotografierenden Touristen (und in manchen Jahren auch Protestlern) vorbei, all dies musikalisch untermalt vom Capstan Shanty-Chor, und wer dann die Obere Rathaushalle betritt, diesmal begleitet von Wagners »Einzug der Gäste«, der kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus …

Ausflug in eine scheinbar andere Zeit

Drei lange Tafeln unter kunstvoll geschnitzten, an der Decke hängenden Koggen stehen dort, angeordnet in der Form eines Dreizacks, wie ihn Meeresgott Neptun trägt. Sie sind

reich gedeckt mit schweren Kandelabern und anderem maritimen Tischschmuck, der nur einmal im Jahr aus den Tresoren der Bremer Bank geholt wird. Salz und Pfeffer in spitz gerolltem Silber- und Goldpapier, das an die Knappheit früherer Tage erinnern soll, liegen neben dem Besteck aus dem 19. Jahrhundert, welches aufgrund seiner tatsächlichen Kostbarkeit nach jedem Gang mit Löschpapier gereinigt werden will.

Und wer dann nach sechs Gängen, zwölf Reden, vielfachem lautstarken Beifall mit den Worten »Hepp, hepp, hepp – hurra!«, dem Singen des Deutschlandliedes und mindestens fünf Stunden Sitzen am Ende aus einer langen Tonpfeife Tabak schmaucht, der fühlt sich nun wirklich in eine andere Zeit versetzt.

Ritterschlag für Firmenkapitäne

Die erstmals 1545 ausgerichtete Bremer Schaffermahlzeit ist das älteste Brudermahl der Welt – und sie gilt nicht nur als Aushängeschild Bremens, sondern auch als eines der bedeutendsten

gesellschaftlichen Ereignisse des ganzen Landes. Stets am zweiten Freitag im Februar kommen genau 100 Kaufleute und 100 Kapitäne des Hauses Seefahrt sowie 100 handverlesene Gäste zusammen, um sich auszutauschen, zu vernetzen, gemein­same Geschäfte anzubahnen – und natürlich auch, um diese Tradition im 470. Jahr überhaupt aufrechtzuerhalten.

Eine Einladung gilt selbst »unter Firmenkapitänen als Ritterschlag«, schreibt das »Handelsblatt«. Konzernlenker wie Klaus Kleinfeld (ex Siemens), Wolfgang Reitzle (Linde) und Dieter Zetsche (Daimler) waren schon dabei, aber auch alle deutschen Kanzler und Bundespräsidenten (bis auf Joachim Gauck, der sich hier noch einreihen dürfte) sowie namhafte Vertreter aus Kunst und Literatur wie der Nobelpreisträger Günter Grass.

Karitativer Zweck besteht bis heute

Entstanden ist die Schaffermahlzeit laut Überlieferung aus der großen Mahlzeit der jährlichen Rechnungslegung der Stiftung »Arme Seefahrt«, der Vorgängerin des heute ausrichtenden »Haus Seefahrt«. Zugleich hatte das Mahl die Bedeutung eines Abschiedsessens der Bremer Schifferschaft, die nach dem Ende der winterlichen Eispause wieder in See stach. Wenn ein Seemann arbeitsunfähig wurde oder gar für immer auf See blieb, sprang die Stiftung mit finanziellen Zuwendungen für ihn und seine Familie ein. Im »pergamentenen Brief«, verfasst am »Donnerstag nach dem Sonntage Laetare« des Jahres 1545, steht geschrieben: »Im Fall, daß etliche von den Schiffern, Kaufleuten oder vom Schiffsvolke durch Seeverlust, oder sonst in Nachtheil oder Schaden kämen, oder an Bord des Schiffes geschossen, verwundet, oder gelähmt würden, oder sonst bei Arbeiten, die für das Schiff oder die Ladung nöthig waren, sich Gebrechen oder Verwundungen zuzögen, so daß sie sonst nicht mehr segeln und ihre Nahrung suchen könnten, und daher verarmen müßten, so sollen dieselben aus der oben berührten Kiste jeder nach seiner Nothdurft und Gelegenheit unterhalten und versorgt werden, damit sie nicht nöthig haben, zur Verkleinerung der Schiffahrt auf der Straße zu liegen, oder vor den Türen zu betteln und um Almosen zu bitten.« Da verarmte (deutsche) Seeleute heute eher die Ausnahme sind, kommt ein Teil der gesammelten Spenden bedürftigen Nautikstudenten zugute.

»Schaffen, schaffen unnen un boven«

Der Name Schaffermahlzeit leitet sich vom Wort »schaffen« ab, das einst neben »arbeiten« und »erledigen« auch so viel wie »die Mahlzeit geben« oder schlicht »essen« bedeutete. Somit wird jede Schaffermahlzeit vom Verwaltenden Vorsteher des Haus Seefahrt mit dem Ausspruch »Schaffen, schaffen unnen un boven, unnen un boven schaffen« eröffnet. Ins Hochdeutsche übersetzt heißt das: »Essen fassen, Essen fassen unter Deck und an Deck, unter Deck und an Deck Essen fassen!« Auf diese Weise riefen die Bremer Schiffsköche früher ihre Besatzungen zu Tisch.

Zu essen gibt es im Wechsel mit den Reden auf Bundespräsi­dent und Vaterland, Bremen und den Senat, die auswärtigen Gäste, Handel, Schifffahrt, Industrie usw. dann allerlei Leckeres: Hühnersuppe, Stockfisch mit Senfsauce, Braunkohl mit Pinkel, Kalbsbraten, Rigaer Butt, zum Abschluss Käse und Obst. Dazwischen wird in schweren Silberhumpen aus dem 18. Jahrhundert das sogenannte Seefahrerbier gereicht – ein zähflüssiger, alkohol­freier Malztrunk, der Seeleuten einst vor ihrer Reise einen Vita­minstoß versetzen sollte. Mit den Worten »Backbord, Steuerbord, mittschiffs« stößt man mit gekreuztem Kelch mit seinem Gegenüber an und trinkt auf Gesundheit und eine gute Reise.

Tradition oder Anachronismus?

Noch heute wird der jahrhundertealten Tradition überwiegend mit großer Ehrfurcht begegnet. Aber es gibt nicht wenige Stimmen, die das Brudermahl für anachronistisch halten. Nicht,

weil es mit seinem genormten, minutiösen Ablauf und den vergangenheitsbezogenen Elementen zuweilen etwas schrullig wirkt, sondern vor allem, weil es auch heute noch die Hälfte der Gesellschaft ausschließt: Nur durch zwei »Schlupflöcher« in den Statuten fanden Frauen bislang Einlass zum Brudermahl: als

Kapitänin und zugleich Mitglied von Haus Seefahrt, und als Bundeskanzlerin. Immerhin: Erstmals waren in diesem Jahr zwei Frauen in Uniform dabei. Was im Jahr 2004 mit Kapitänin Barbara Massing noch eine Sensation war, wird zehn Jahre später nur noch am Rande zur Kenntnis genommen.

Gegen eine Frau in Kapitänsuniform sei ja auch gar nichts einzuwenden, sagt ein lange zur See gefahrener Teilnehmer. Aber dass eines Tages weibliche Gäste im Abendkleid teilnehmen, das würde doch zu weit gehen. Wenn überhaupt, dann sollten auch diese bitteschön Frack tragen. Angela Merkel freilich beugte sich dieser Erwartung nicht, als sie 2007 als bislang einziger weiblicher (Ehren-)Gast an der Schaffermahlzeit teilnahm – aber immerhin trug sie dezentes Schwarz-Weiß.

Damen-Debatte in vollem Gang

Es bleibt abzuwarten, wie lange sich das Haus Seefahrt dem gesellschaftlichen Druck der Emanzipation verwehren kann. Die Kritik wird in jedem Jahr lauter. »Das Parlament hat per Bürgerschaftsbeschluss eindringlich appelliert, Frauen zur Schaffermahlzeit zuzulassen. Hierauf schlicht nicht zu reagieren, ist dreist«, sagte Bremens Landesfrauenbeauftragte Ulrike Hauffe am Rande der letzten Veranstaltung. Auch der diesjäh­rige Ehrengast, Bundesbankpräsident Jens Weidmann, ließ leichte Kritik in seiner Rede anklingen, als er eine Dame zitierte, »denn Frauen sind heute hier ja leider nicht zu Wort gekommen«.

Fest steht: Die Damen-Debatte wird unter den Mitgliedern von Haus Seefahrt kontrovers geführt – mit durchaus offenem Ausgang. Vermutlich braucht es nach 470 Jahren einfach noch ein bisschen Zeit.


Nikos Späth