In der jüngeren Weltgeschichte gibt es keine Parallele zu dem zweimaligen Fall und Aufstieg der deutschen Handelsflotte nach dem Ersten[ds_preview] und Zweiten Weltkrieg, kein anderes Beispiel für das dramatische Ende eines Wirtschaftszweiges und seiner unglaublich schnellen Erholung.
Nach den aufgezwungenen Bedingungen des Versailler Vertrages von 1919 mussten alle Handelsschiffe mit mindestens 1600 Bruttotonnen – zusätzlich auch ein großer Teil der kleineren Einheiten – an die Sieger des 1.Weltkriegs und ihre Verbündeten abgegeben werden. Als größeres Schiff verblieb nur der Passagierdampfer »Victoria Luise« beim Deutschen Reich. Die Alliierten wollten das HAPAG-Schiff wegen seines schlechten Zustandes nicht haben.
Die deutsche Schifffahrt, vor Kriegsbeginn nach der britischen die zweitgrößte der Welt mit über 5Mio. BRT, war am Ende. Ihr Anteil an der Welttonnage verringerte sich von über 11 auf unter 1%. Den privaten Reedereien, so z. B. der Deutschen Ostafrika-Linie, blieb praktisch nichts. Zusätzlich lasteten Schulden auf ihnen, denn die abzuliefernden Schiffe mussten lastenfrei an die neuen ausländischen Eigentümer übergeben werden. Außerdem musste Deutschland auf seinen Werften zur Wiedergutmachung Schiffe für die Sieger bauen – zu Preisen, die die Alliierten bestimmten.
Die deutsche Handelsflotte erholte sich relativ schnell wieder. 1922 schickte die Hamburg Süd den Umbau »Cap Polonio« auf Kreuzfahrt. 1923 ging das HAPAG-Passagierschiff »Albert Ballin« (20.815 BRT) auf Jungfernfahrt. 1929/30 wurden die Turbinen-Schnelldampfer »Bremen« und »Europa« des Norddeutschen Lloyds mit jeweils etwa 50.000 BRT gebaut. Die deutsche Handelsflotte konnte 1939 nahezu an die Vorkriegsbedeutung anknüpfen. Hinter Großbritannien, den USA, Japan und Norwegen belegte sie Platz 5 der Weltrangliste.
Der Zweite Weltkrieg führte zu einem zweiten Desaster: Handelsschifffahrt war kaum noch möglich. Viele zivile Schiffe kamen in den Kriegseinsatz, z. B. als Truppentransporter, Lazarett- oder Wohnschiffe. Etwa 2,5Mio. BRT Schiffskapazität fielen dem Krieg zum Opfer, 1Mio. BRT wurden nach der Kapitulation 1945 beschlagnahmt.
Zugestanden wurde Zonen-Deutschland nur noch die Küstenschifffahrt im eingeschränkten Umfang. Erlaubt wurden 1946 der Bau von Frachtschiffen bis zu 1.500 BRT und der Bau von Fischdampfern bis 400 BRT. Als Maschinen durften nur Dampfmaschinen mit Kohlefeuerung verwendet werden. Ansonsten war man auf Reparaturen und Umbauten beschränkt. So entstanden die sogenannten »Reparaturschiffe«, teilweise gehobene Schiffsreste, die fast völlig neu aufgebaut wurden.
Mit dem amerikanischen Marshall-Plan 1948 setzte für die amerikanische und britische Zone ein Umdenken ein. Es setzte sich neben der Erfordernis, die zerbombten Städte wieder aufzubauen, der Gedanke durch, dass der westliche Teil Deutschlands ohne eine größere Flotte wirtschaftlich nicht überlebensfähig war und seine Zahlungsbilanz nicht ausgleichen konnte. Schrittweise wurden die Restriktionen gelockert.
Die Reedereien kamen aus dem Nichts heraus in den Nachkriegsjahren wieder in Fahrt. Die HAPAG stellte 1948 den Seebäderdampfer »Glückauf« (die 1913 gebauten »Bubendey«) in Dienst, bevor sie wieder große Schiffe baute. Die Hamburg Süd nahm 1951 den Liniendienst nach Südamerika auf. Mit dem großen, ehemals schwedischem Fahrgastschiff »Gripsholm«, später in »Berlin« umbenannt, startete der bremische Norddeutsche Lloyd 1954 seinen Passagier-Liniendienst.
Auch die deutschen Werften konnten wieder durchstarten. Ihre Auftragsbücher füllten sich in den fünfziger Jahren schnell. Ihre Baukunst und Qualität war bei ausländischen Großreedern wie Onassis und Niarchos begehrt.
Heute verfügen deutsche Reeder mit rund 3.200 Schiffen über 9% der weltweiten BRZ-Tonnage. Der Chronist des Niedergangs und Wiederaufbaus der deutschen Flotte nach 1945 war übrigens Peter Tamm. Als junger Schifffahrtsredakteur des »Hamburger Abendblatts« schrieb er täglich über den Verbleib der deutschen Schiffe. Später berichtete er über Hunderte von Werftfahrten und Stapelläufen. Was die deutsche Schifffahrt war und was aus ihr wurde, kann man in seinem Internationalen Maritimen Museum in Hamburg erfahren. Dort sind fast alle Schiffe als Modell ausgestellt – Zeugnisse tüchtiger Reeder, die zweimal wie Phoenix aus der Asche stiegen.