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Angesichts immer besserer Voraussetzungen für arktische Transporte rücken der Polar Code der IMO – inklusive möglicher Anpassungen – sowie digitale Routing- und Performance-Tools zunehmend in den Fokus der Schifffahrt. Von Michael Meyer

[ds_preview]Eine »historisch niedrige Eisausdehnung« in der Arktis (Juli 2020), so viele, genau 88, »offene« Tage in der Nordostpassage wie noch nie (Zitat vom Dienstleister Weathernews), frühester Transit (mit dem LNG-Tanker »Christophe de Margerie« im Februar) … In den vergangenen Monaten häuften sich einmal mehr die für Reeder, Rohstoffkonzerne und die russischen Behörden positiven Nachrichten zur arktischen Schifffahrt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Fahrten durch den 3.000 sm langen Seeweg zwischen der Barentssee und der Beringstraße sukzessive zunehmen werden. Immerhin lassen sich je nach Berechnung bis zu einem Drittel des üblichen Wegs zwischen Europa und Asien durch den Suezkanal einsparen.

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Die Entwicklung der polaren Eismassen bleibt positiv für die Schifffahrt – in der Nordostpassage allerdings weit besser als in der Nordwestpassage.
Hier zu sehen die Eisabdeckung im Oktober 2020 (Quelle: NASA)

Die russische Regierung hält an ihren Plänen fest, die an der Nordküste des Landes transportierten Volumen auf 70 bis 80 Mio. t bis 2024 zu steigern. Im Fokus stehen zwar vor allem Verschiffungen für und von den Rohstoffprojekten »Arctic LNG« und »Yamal LNG«. Aller-dings will Moskau bekanntlich auch den Containertransport deutlich steigern, eine ganze Flotte an entsprechend ausgestatteten Schiffen soll gebaut werden. Bislang nutzen nur wenige Carrier wie Cosco oder Fesco die Nordostpassage für »andere Transporte«, einer der größten Nutzer ist die staatliche russische Reederei Sovcomflot mit ihren vielen neuen LNG-Tankern – sie absolviert jedoch weiter vor allem Teil-Transite zu russischen Häfen und keine Komplettdurchfahrten.

Das norwegische Centre for high North Logistics (CHNL) zählte davon im vergangenen Jahr aber immerhin auch schon 62, nach 37 in 2019. In der vergangenen Saison wurden zwischen Januar bis September knapp 23 Mio. t. Ladung in der Passage gezählt, davon entfiel mehr als Hälfte auf Gas-Verschiffungen. Die Transitgenehmigungen der zuständigen Behörde Northern Sea Route Administration wuchsen 2020 um ein Viertel auf 912.

Welchen Zahlen von welchen Akteuren (mit unterschiedlichen Interessen) man auch immer den größten Glauben schenkt – es wird deutlich, dass die Nordostpassage immer stärker in den Fokus rückt. Und damit ganz konkrete, operative Herausforderungen für Reeder.

In Bezug auf operative Handlungsempfehlungen können Reeder auf den seit 2017 in Kraft getretenen »Polar Code« der internationalen Schifffahrtsorganisation IMO zurückgreifen.

»Wir brauchen mehr Kooperation mit Reedern, die in arktischen Gewässern unterwegs sind«

James Bond, ABS

Die Klassifikationsgesellschaft American Bureau of Shipping (ABS) beschäftigt sich intensiv mit dem Regelwerk. Prinzipiell, so Dan Oldford aus dem Harsh Environment Technology Centre in Neufundland, sei es ein sehr gutes Regelwerk. Allerdings gebe es durchaus noch Stellschrauben, an denen zu drehen sich lohnen könnte, speziell mit Blick auf Reeder, die wenig Erfahrung in arktischen Regionen haben:

»In dieser übergreifenden Methodik des Polar Codes als zielbasierter Standard ist nicht alles, was enthalten sein könnte, auch tatsächlich enthalten. Es ist ein relativ flexibler Code, gute Betreiber können ihn nutzen. Aber er enthält nicht so viele harte Vorschriften, wie wir es gewohnt sind. Das kann für einen unerfahrenen Betreiber zu Problemen führen.«

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Die Erfahrung der Crew ist für die arktische Schifffahrt von großer Bedeutung (Foto: SCF / Sovcomflot)

Oldford sieht Raum für mehr »Anleitung«: Es gebe einige Dinge wie lebensrettende Themen, bei denen der Kodex definitiv einige Lücken habe. Dann gebe es andere Dinge wie Kommunikationssysteme für lebensrettende Geräte, die nur im Niedrigtemperaturbetrieb erforderlich sind. »Aber was hat die Temperatur damit zu tun, dass man mit Überlebenden in einer Rettungsinsel oder einem Rettungsboot kommunizieren kann?«

Sein Kollege James Bond, Director, Polar Research and Government Business Development, sieht ein Problem in den IMO-Vorschriften für EEDI, EEXI, Kohlenstoffintensität und wie sich das auf Schiffe mit Eisklasse auswirken könnte, weil es einige Lücken gibt, wie sie behandelt werde: »Diese neuen Vorschriften könnten sich auf die Polarschifffahrt auswirken.«

Er erläutert: »Wenn Sie heute ein Schiff der Eisklasse haben, gibt es eine Korrektur für den EEDI. Sie zielt darauf ab, den Unterschied zu einem Schiff ohne Eisklasse auszugleichen, wenn beide auf offener See unterwegs sind. Denn das Eisklasse-Schiff hat einen stärkeren Propeller, ist also etwas weniger effizient. Auch die Rumpfform kann wegen des Bugs etwas weniger effizient sein. Zudem kann die schwerere Struktur, die benötigt wird, um den Eislasten zu widerstehen, zu einer geringeren Tragfähigkeit führen. Aber wenn wir uns den Indikatoren für die Kohlenstoffintensität zuwenden, betrachten wir eigentlich den Treibstoffverbrauch auf Jahresbasis. In Zeiten, die im Eis verbracht werden, verbrauchen Schiffe aufgrund des höheren Widerstands natürlich viel mehr Kraftstoff.«

Wenig Containerschiffe

Die operativ größte Herausforderung für Reeder ist nach Ansicht von Oldford »ohne Zweifel« Wissen, Verständnis und Training. »Der Code ist ein zielorientierter Standard. Alles basiert auf der Betrachtung der Gefahren, die mit dem Betrieb in diesen Umgebungen verbunden sind, und auf der Anwendung von Risikokontrollmaßnahmen zur Bewältigung dieser Gefahren. Wenn ein Eigentümer oder Betreiber die Gefahren nicht wirklich versteht, verfügt er nicht über die notwendigen Ressourcen, um die Risiken zu beherrschen.« Für Bond ist der Code daher ein guter Rahmen, um dieses Verständnis zu verbessern.

ABS registriert mittlerweile ziemlich regelmäßig Anfragen von Reedern aus fast allen Schifffahrtssegmenten. Eine Ausnahme sind Reeder von Containerschiffen – »wir haben noch nicht viele Carrier in der Arktis gesehen, vor allem wegen der fehlenden Planungssicherheit. Massengutfrachter und Tanker haben eher die nötige Flexibilität.« Transporte im Zusammenhang mit der Rohstoffgewinnung aus arktischen Minen und Anlagen sind der Großteil dessen, womit ABS arbeitet.

Auf der anderen Seite ist die Klasse auf die Zusammenarbeit mit Reedern angewiesen – nämlich dann, wenn es um Erkenntnisse für Anpassungen an Schiffsdesigns oder Ähnliches geht. Bond sagt »Die einheitlichen IACS-Anforderungen für polare Schiffsstrukturen sind ein sehr gutes Regelwerk. Aber um diese zu definieren, brauchen wir Daten über Vorfälle.« Ein weiterer Aspekt sei der Einsatz von Eislast-Überwachungssystemen, um die strukturelle Reaktion besser verstehen zu können. »Was in der Vergangenheit fehlte, war die Charakterisierung des Eises, das mit den Schiffen interagiert, um darauf aufbauend am Design zu arbeiten. Ein viel fundierteres Verständnis und eine Vermutung, was die Ursache für das Belastungsereignis war, wäre gut. Wir brauchen also mehr Zusammenarbeit mit Schiffseignern, die bereits in arktischen Gewässern unterwegs sind«, so der Experte.

Wetter-Routing oder Monitoring-Tools können nach Ansicht der Amerikaner Sinn machen, sie allein reichen aber nicht aus: »Meiner Meinung nach geht es um die Verlässlichkeit von Eisdaten. Wenn Eiskartendaten einen Maßstab von zig Kilometern haben und es an Bord bei einem taktischen Manöver um Dutzende oder Hunderte von Metern geht, ist die Erfahrung der Besatzung absolut ausschlaggebend«, sagt Bond.

Digitale Tools im Einsatz

Unterstützung für den Alltag in arktischen Gewässern können auch digitale Tools bieten, nicht zuletzt für die Effizienz im Schiffsbetrieb. Zu den entsprechenden Anbietern gehört die norwegische StormGeo-Gruppe, ursprünglich aus dem Bereich Wetter/Routing kommend, mittlerweile aber auch mit Services für Monitoring und Datenanalyse.

Michael O’Brian, Product Manager s-Routing, sieht zwar ein, dass man von außen selten so viel sieht und weiß wie die Crew an Bord. In den arktischen Regionen ist das Wetter sehr wechselhaft. Ein Teil des Problems ist seiner Ansicht nach, dass die Vorhersagemodelle für diese Breitengrade auf eine geringere Anzahl von Datenpunkten zurückgreifen können, daher können sie bisweilen etwas ungenau sein. Eine gewisse Erfahrung in diesen Gewässern ist daher unerlässlich, um bestimmte Muster erkennen zu können. »Meiner Meinung nach ist das Situationsbewusstsein an Bord von großer Bedeutung. Wir stellen zusätzlich Daten zur Verfügung, die den Seeleuten helfen, schnelle und bestmögliche Entscheidungen zu treffen«, so O’Brian. Von Bedeutung sind dabei auch die Unterschiede in den arktischen Regionen Nordostpassage und Nordwestpassage (NWP) nördlich von Kanada

Zwei arktische Gesichter

Auch ABS-Experte Oldford sieht solche: Gibt es einen Unterschied zwischen den Polarregionen? »Die Antwort ist »absolut ja« und »absolut nein«. Am Ende des Polar Code-Prozesses stellen wir einem Schiff ein Polarschiffszertifikat mit Betriebsbeschränkungen aus. Dann kann der Eigner überall in polaren Gewässern fahren, solange er sich innerhalb dieser Beschränkungen bewegt, die Antwort ist also nein. Um diese Beschränkungen festzulegen, müssen wir jedoch wissen, wie die verschiedenen Umgebungen aussehen und wann und wo das Schiff fährt. In diesem Fall ist die Antwort ja.«

Bond ergänzt: »Die Methodik des Polar Codes besagt, dass, wenn man die Eisgefahren kennt, das Risiko für die jeweilige Eisklasse und das Schiff bewerten kann. Aber dafür braucht man die Eisdaten, und die Zuverlässigkeit der Eisdaten ist sehr unterschiedlich.« Ein weiterer Unterschied bezieht sich auf die Flexibilität der Fahrpläne. Für Containerschiffe sind die Zeitpläne sehr eng. Für Tanker und Bulker ist das weniger wichtig. »Dennoch ist die Vorhersagbarkeit des Zeitplans sehr wichtig, und ich denke, dass wir das in der NSR mehr und mehr erreichen, weil mehr Unterstützung durch Eisbrecher zur Verfügung steht und es mehr Infrastruktur gibt. Der Mangel an Vorhersagbarkeit der Eisentwicklung in der kanadischen Arktis macht die NWP einfach zu einer schwierig zu planenden Sache.«

Die NWP kann aufgrund der Eisbedingungen weniger genutzt werden. Zu den dort verhältnismäßig häufig aktiven Reedereien gehört Wagenborg aus den Niederlanden. Der MPP-Carrier spricht von einer Ersparnis von 4.000 sm und 14 Tagen im Verhältnis zur Route durch den Panamakanal. Im vergangenen Jahr verzeichnete Wagenborg fünf polare Reisen im Handel zwischen China und Nordamerika.

Wendepunkt noch nicht erreicht?

Auf beiden Routen gibt es Zeiten, in denen auf Eisbrecher zurückgegriffen werden muss, mit entsprechenden Folgen für Effizienz und Kraftstoffverbrauch. »Wenn wir von Effizienz sprechen, bedeutet das, dass wir die Geschwindigkeit oder die Route des Schiffes optimieren können oder eine Kombination aus beidem. Und wenn man einem Eisbrecher folgt, hat man natürlich eine vorgeschriebene Route und eine vorgeschriebene Geschwindigkeit und man kann nicht wirklich viel tun, um das zu optimieren«, sagt der StormGeo-Experte.

In der NWP ist die Optimierung wegen des hartnäckigen Eises und der engen Navigation eine besondere Herausforderung. O’Brian meint daher, nördlich von Russland hingegen gibt es mehr Möglichkeiten, durch Wetter-Routing die Leistung für die Hauptmaschinen zu optimieren, um weitere Einsparungen zu erzielen.

Letztlich gibt es aber auch nördlich von Russland weiter Unsicherheiten. Eine konkrete Kalkulation von Transporten bleibt schwer. Die Meteorologie spielt eine wichtige Rolle: »Wenn das Meereis in die Fahrrinne gerät, kann das auch die Windverhältnisse verändern. Es ist eine große Herausforderung, aber wir lernen jedes Jahr dazu«, sagt O’Brian. Trotz der verbesserten Konnektivität der polaren Regionen bestehe zudem nach wie vor ein gewisses Risiko, große Datenmengen an Bord zu bekommen. Schließlich befinde man sich bisweilen am nördlichen Rand der Satellitenabdeckung.

Auch wenn Liniendienste vorerst nicht zu erwarten sind: Insgesamt rechnet der Experte aber damit, dass die Anzahl der Transite durch die Nordostpassage wie zuletzt weiter zunehmen wird, »wenn das Wetter verlässlicher wird und ein Eigner oder Charterer verlässlich planen und sagen kann.« Entsprechend erwartet er auch eine steigende Nachfrage nach den Dienstleistungen von StormGeo.

Aktuell sei noch nicht »so etwas wie ein Wendepunkt« erreicht, die Chance auf eine signifikanten Reduzierung von Emissionen durch die kürzeren Wege sei aber zu groß, als dass die Industrie nicht darauf eingehen könne: »Es ist zu attraktiv, in der Schifffahrt geht es immer um Zeit.«

 


Abstract: Gaps in the »Polar Code«?

In view of the ever-improving conditions for Arctic transports, the IMO‘s Polar Code – including possible adaptations – as well as digital routing and performance tools are increasingly coming into focus for shipping. The classification society ABS still sees a need for adjustments to the Code, which is, however, in principle a good instrument. According to experts, the experience of shipowners and crew is enormously important – also for service providers such as StormGeo to enable more efficient ship operation.