Print Friendly, PDF & Email

Anmerkungen zum Seeunfall des Kreuzliners »Costa Concordia« und

der subjektive Versuch einer Erklärung von

Niemand hatte den Kapitän aufgefordert, den Kurs der »Costa Concordia« zu ändern, der ursprünglich in tiefem Wasser an der Isola[ds_preview] del Giglio vorbeiführte und diese in sicherem Abstand an der Steuerbordseite liegen ließ. Oder doch?

Das Schiff war mit moderner Technik ausgestattet, von der die Hersteller immer wieder schrieben, dass sie zur Sicherheit und Wirtschaftlichkeit des Schiffes beitrage, zuverlässig, leicht zu warten und einfach zu bedienen sei. Er hätte sich an diesem späten Abend nach dem Verlassen des Hafens Civitavecchia zur Ruhe begeben oder sich unter die Passagiere mischen und in aller Ruhe der modernen Technik und den Nautikern auf der Brücke vertrauen können. Mehr als 4.200 Passagiere und Besatzungsmitglieder fühlten sich sicher und geborgen auf diesem Schiff, hatten die Reise voller Erwartungen angetreten und beschäftigten sich mit den verschiedenen schönen Dingen, die dieses Schiff ihnen anbot. Niemand ahnte, dass er weniger als eine Stunde später in dunkler Nacht das Schiff würde verlassen und notfalls in die kalte See springen müssen, um sein Leben zu retten oder es zu verlieren.

Der Kapitän hatte sich entschlossen, die Isola del Giglio an Backbord zu passieren. Das hatte man schon schon häufig getan, um den Inselbewohnern, insbesondere aber den Passagieren, ein imposantes Schauspiel zu bieten. Diese berichteten voller Begeisterung über ihre Erlebnisse und zogen damit das Interesse anderer potenzieller Passagiere auf dieses Schiff bzw. die Reederei. In dunkler Nacht lief ein über alle Decks hell beleuchtetes, riesiges Schiff in geringer Entfernung an der felsigen Küste vorbei und bot allen ein imposantes Spektakel.

Auch andere Schiffe zuvor hatten diesen Weg schon gewählt. Sie waren dabei kein besonders hohes Risiko eingegangen, wenn sie einen Mindestabstand von den gefährlichen Klippen einhielten und diesen überwachten. Was sollte bei einer Wassertiefe von mehr als 100 m denn schon passieren?

Kurz vor 20:42 UTC lag Punta Torricella ca. 1 sm an Backbord voraus. Das Schiff lief eine Geschwindigkeit von etwa 15–16 kn. In weniger als zehn Minuten wäre das Spektakel vorbei gewesen. Anfangs konnte der Abstand im Radar gut gemessen werden. Am Punta Torricella wurde der Kurs so geändert, dass das Schiff parallel zur Küstenlinie lief. Das Schiff hatte einen Quer­abstand (rekonstruiert) von ca. 920 m.

Technische Mängel?

Die Tiefenlinien bei Le Scole waren gut gekennzeichnet. Selbst bei einem Querabstand von nur einer halben Seemeile war tiefes Wasser zwischen 50 und 100 m vorhanden. Das Echolot hätte diese Tiefen für eine erste grobe Orientierung angezeigt. Die Tiefenbestimmung über einzelnen flachen Felsspitzen hingegen wäre für eine vorausschauende Navigation nicht verwendbar gewesen. Die Veränderung einer geplanten, von der Reederei bestätigten Wegeführung aus navigatorischen oder sonstigen meteorologischen und / oder sicherheitsspezifischen Gründen liegt durchaus im Ermessensspielraum eines Kapitäns und entspricht einer »guten Seemannschaft«. Man kann davon ausgehen, dass die ursprüngliche Route von den »Werkzeugen« der ECDIS (Electronic Chart Display and Information System) unter Beachtung einer festgelegten »safety contour« überprüft war und zur Nutzung bereit stand. Bei Überschreitung bestimmter Grenzwerte hätte es bei Abweichungen von der Route mindestens Warnungen bzw. Alarme bezüglich des Kurses und der Querabweichung von der Bahn gegeben. Diese technischen Vorteile hätten auch genutzt werden können, wenn die veränderte Route gleichen Prüfkriterien unterzogen worden wäre. Aber lohnte sich überhaupt eine neue Reiseplanung für die etwa sechsminütige Vorbeifahrt an Giglio Porto? Oder war der Kapitän nicht darauf vorbereitet, weil er sich ganz plötzlich entschloss oder eine diesbezügliche Order bekam? Oder war die veränderte Route doch einer vorherigen Prüfung unterzogen worden?

Es bleiben viele Möglichkeiten für eine ordentliche Navigation. Spätestens an dieser Stelle müssten Fragen zur Funktions­verteilung auf der Brücke, zur Absprache ­zwischen Kapitän und Offizieren, zur Festlegung eines Mindestabstandes, zur Verwendung der Navigationssysteme und zur Genauigkeit der Messungen beantwortet werden. Welcher der Offiziere war eigentlich dafür zuständig, den Kapitän auf die Abstände zur Küste aufmerksam zu machen? Es ist zu einfach und entspricht weder der Arbeitsweise auf der Brücke eines Passagierschiffes noch den Trainingsinhalten und der -methodik an Schiffsführungs­simulatoren, nur den Kapitän in die Verantwortung zu nehmen und der öffentlichen Meinung auszusetzen. Gibt es Aufzeichnungen aus dem Voyage Data Recorder über Absprachen zum Mindestabstand (heute würde man das als »shared mental model« bezeichen) oder über einen warnenden Hinweis einer der Offiziere etwa in der Art: »Herr Kapitän, unser Abstand wird zu gering, wir müssten den Kurs etwas nach Steuerbord ändern«? Wenn das der Fall gewesen sein sollte, bleibt die Frage: Warum hat der Kapitän nicht darauf reagiert?

Lief das Schiff tatsächlich ohne jegliche Vorwarnung auf die Klippen von Le Scole? Natürlich kann die aktuelle Position des Schiffes auf der ECDIS angezeigt werden, ohne dass sie einer sicherheitstechnischen Prüfung unterzogen wurde oder wird. Warn- bzw. Alarmmeldungen würden dann allerdings entfallen. Auch könnte man die Vorauslinie als »heading« oder die wahre Bewegungsrichtung als »course over ground« erkennen und daran ablesen, ob die Untiefe bei Le Scole geschnitten werden würde oder in sicherer Entfernung daran vorbeiführt.

Bei Abstandsmessung mittels Radar musste man in Abhängigkeit von der Höhe des Antennenstandortes, der Impulslänge des Antennensignals und des eingestellten Entfernungsbereiches wohl in großer Nähe zur felsigen Küstenlinie mit Fehlanzeigen (toten Winkeln) rechnen. Es liegt durchaus im Bereich der Möglichkeiten, dass die reflektierten Signale die Felsen in einiger Höhe trafen und dadurch einen größeren Abstand auswiesen als er eigentlich in Wasserlinienebene tatsächlich war. Vielleicht ist das eine Begründung für die Feststellung des Kapitäns, dass die Untiefe nicht in der Seekarte eingetragen gewesen sein soll. Eine Aufzeichnung der Positionen aus der »Black Box« kann hier Aufschluss geben. Mit Spannung kann man der »Öffnung« der Daten, der Rekonstruktion des Weges und der

Interpretation der Radarbildanzeigen entgegen sehen.

Der Unfallort ist in der Seekarte (s.o.) eingetragen. Man erkennt, dass er innerhalb eines zu vermeidenden Tiefenbereiches liegt. Aus den bisherigen »Verhaltens- bzw. Unterlassungsindizien« des Kapitäns lässt sich immer stärker die Vermutung ableiten, dass er etwa zehn Minuten lang ausschließlich nach optischer Sicht fuhr. Die Kurs­änderung des Schiffes etwa kurz vor dem Punta Torricella erfolgte entweder nicht rechtzeitig oder nicht energisch genug. Aus dem Kurvenradius lässt sich ablesen, dass bei einer Geschwindigkeit von ca. 16 kn die Ruderlage etwa 8–10° Steuerbord betragen haben müsste. Das führte zu einem leichten Versatz des Schiffes nach Backbord, der aber wegen dann ausbleibender Navigation nicht bemerkt wurde. So war man zufrieden, dass das Schiff parallel zur Küste lief – wie immer, aber dieses Mal um wenige Meter (etwa eine Schiffsbreite!) zu dicht.

Auch die Richtung und die Stärke des Stromes wären mögliche Einflussgrößen. Der Querabstand (rekonstruiert) zu Punta di Capo Marino betrug nun etwa 660 m. In der Karte ist erkennbar, dass das Schiff ohne unverzügliche Kursänderung nach Steuerbord die Klippen berühren musste. Aber man fuhr ja immer diesen parallelen Kurs bis die Molenfeuer von Porto Giglio passiert waren (Routine?).

Die Rekonstruktion ergibt einen tatsächlichen Querabstand des Schiffes von der Küstenlinie in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle von 230 m, vom roten Molenfeuer von etwa 270 m. Eine Bahnführung direkt durch die felsenübersäte Spitze der Untiefen vor Le Scole kann nicht geplant worden sein. Wenn ein solcher Kurs durch die gut bezeichneten Untiefen führen würde, muss von Absicht ausgegangen werden. Das aber kann der Schiffsführung nicht unterstellt werden. Gegenüber den bekannt gewordenen Abständen bei der Vorbeifahrt von großen Passagierschiffen von ca. 300 m und mehr waren das schließlich einige Meter zuwenig. In der Nachbetrachtung kann ein Abstand zwischen 0,8 und 1,0 sm zur Küste als relativ sicher betrachtet werden.

Auf dem Schiff kann im Zeitabschnitt von 20:42 bis 20:46 UTC keine Navigation mit der verfügbaren Technik stattgefunden haben – oder die Warnungen der Offiziere wurden vom Kapitän nicht beachtet. Das Schiff wurde offenkundig ausschließlich nach optischer Sicht und gefühltem Abstand zur Küste gesteuert. Dabei nahm man in Kauf, dass Abstände zu dunklen Felsen in der Nacht und einer Augeshöhe von ca. 25–30 m wegen der Probleme des räumlichen Sehens sowie der ausstrahlenden Eigenbeleuchtung des Schiffes sehr schwer auf wenige Meter genau einzuschätzen sind. Der Kapitän kann sich der Situation nicht bewusst gewesen sein oder war durch irgendeinen Umstand in der Konzentration gestört. Seine Offiziere unterließen offenbar ihre Unterstützung oder ihre Hinweise wurden nicht beachtet.

Zu hohe Risikobereitschaft?

Dem Kapitän eine zu hohe Risikobereitschaft zuzuschreiben ist nicht angebracht. Risiko ist bekanntlich das Produkt aus ­erwarteter Schadenshöhe und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes. Der Kapitän kann nicht damit gerechnet haben, dass der durch die scheinbar übliche Fahrweise parallel zur Küste entstehende materielle Schaden mehr als 800 Mio. € betragen, über 4.200 Menschen in Lebensgefahr und davon einigen den Tod bringen würde. Er kannte vermutlich auch nicht die Höhe der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes, wenn er in geringem Abstand an der Insel vorbeiliefe. Eher ist davon auszugehen, dass er mit der Wahrscheinlichkeit »0« rechnete. Aus dieser Sicht ist es überhaupt nicht möglich, von »Risiko« zu sprechen.

Der Begriff Risiko wurde mit dem Beginn der Neuzeit aus der italienischen in die deutsche Sprache übernommen (rischiare = Gefahr laufen). Das deutet auf den lateinischen Ursprung des Begriffes hin: risicare = Klippen umschiffen. Risiko und Seefahrt gehörten zusammen. Bereits in der italienischen Sprache lag die Bedeutung des Begriffes nicht allein darin, anteilige Gefahren zu beschreiben, sondern auch die Gefahren, die bewusst eingegangen werden, um ein gestecktes Ziel zu erreichen.

Der Begriff »Risiko« ist eng mit dem menschlichen Handeln und seinen Folgen verknüpft (vgl. [1]). Es wäre sinnvoll, über eine Kenngröße zu verfügen, die auf der Grundlage identifizierter und bewerteter Gefahren den aktuellen Prozesszustand anzuzeigen in der Lage ist. Ohne eine Kenn­größe »Höhe der Gefahr« kann es zu Zeit- und Auffassungsproblemen kommen. Die »Gefahr« bliebe ein hypothetisches Gebilde und keine Eigenschaft einer Handlung oder des Prozesses selbst, mit der die Gefährlichkeit eines Ereignisses überhaupt abgeschätzt, berechnet und als Entscheidungshilfe genutzt werden kann. Gerade zu dieser Problematik hat der Verfasser in den zurückliegenden Jahren in der HANSA eine Reihe von Fachartikeln veröffentlicht und Lösungen erarbeitet (vgl. [3], [4]).

Der Seeunfall der »Costa Concordia« darf nicht nur ein Versicherungsfall bleiben, für den man einen Schuldigen benötigt. Den hatte man ohnehin sofort gefunden, zumal alle weiteren Handlungen zur Rettung der Passagiere als fehlerhaft eingestuft wurden und den Kapitän belasteten. Wenn alles so bliebe, hätte man keine einzige wirkliche Ursache für diesen Seeunfall gefunden.

Was bewog den Kapitän, von der Reise­planung abzuweichen und einen anderen Weg zu suchen? Fuhr er immer so? Wusste die Reederei davon? Hat er die mögliche Gefahr erkannt? Worin bestand seine Motivation? In welcher Weise trugen seine Persönlichkeitseigenschaften zu der Entscheidung bei? Kannte man diese Eigenschaften in der Reederei bzw. im Kreise der Offiziere? Welche Rückkopplungen zwischen Schiff und Reederei existieren? Welche Trainingsmethoden werden angewendet und wie bewertet? Wie werden Qualität und Kompetenz gemessen? Welches Wach­regime herrscht an Bord? Wie ist die Funktionsverteilung organisiert? Welchen Einfluss nehmen Reederei und Offiziere auf die Entwicklung technischer Systeme? Gibt es Vorstellungen über »gute Seemannschaft«?

Wunschdenken, Hoffnungen und Erwartungen sind tief in menschlicher Tätigkeit verwurzelt. Nicht unerwartet sind sie die Quelle vieler Fehler, Irrtümer und Enttäuschungen. Menschen können die vor ihnen liegende Realität einschließlich ihres weiteren Verlaufes nur sehr bedingt objektiv einschätzen. Der Wunsch nach »Bestätigung des eigenen Tuns« und des soeben konstruierten Modells der Situation sind stark ausgeprägt, bestimmen die Handlungsregulation und die daraus abgeleiteten Entscheidungen. Der Mut zur Handlungskorrektur verliert sich mit dem Grad der Faszination des Handelnden bezüglich der einsetzenden Folgen.

Qualitative Gefahrenabschätzung

Der Mensch will den Erfolg, will die Bestätigung seines Planes und wartet ab, ob sich alles so einstellt, wie gedacht. Er ist der Dynamik der Veränderungen ausgesetzt, unterdrückt seine Zweifel, verstärkt seine Hoffnungen und Erwartungen. In dieser Phase des Handlungsprozesses werden kaum Korrekturen angebracht. Führt die Handlung letztlich zu einem Erfolg, bleibt sie als solche in Erinnerung, unabhängig davon, ob sie tatsächlich optimal war.

Immer wieder erlebte Situationen mit etwa gleichen Eigenschaften, deren Bewältigung bisher (und sei es durch Fahren nach optischer Sicht ohne Navigationshilfsmittel) stets erfolgreich war, führen zu einer sehr vereinfachten und verallgemeinerten Modellbildung mit nicht weiter zu überprüfenden Problemlösungen bezüglich möglicher Gefahren (vgl. [4]). Die Richtigkeit der Bewertung einer Situation hängt davon ab, wie notwendige Informationen ausgewertet werden und wie stark die ausgewerteten Ergebnisse mit der objektiven Realität übereinstimmen. Das setzt natürlich voraus, dass es derartige Informationen gibt. Zeitliche Verzögerungen von Handlungen beruhen auf nicht oder zu spät erkannten Veränderungen der Umwelt, zumal die Gerätetechnik nur »Momentaufnahmen« liefert.

In immer größerem Maße sind für die wirtschaftliche und sichere Schiffsführung die qualitative Voreinschätzung möglicher Gefahren für die Erfüllung von geplanten Zielen und Normen sowie die Ermittlung aktueller Prozesszustände notwendig. Ein solches Herangehen löst die Versuchs- und Irrtumsphilosophie wie auch die Praxis globaler Sicherheitszuschläge mehr und mehr ab. Dieser Ablöseprozess vollzieht sich in einigen Technikzweigen (Bau, Luftfahrt, Schifffahrt, Bergbau, Straßenverkehr, Energieerzeugung, Chemieindustrie u. a.) in unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Weise.

Nach der Normierung IEC 2371 ist Qualität die Übereinstimmung zwischen den festgestellten Eigenschaften und den vorher festgelegten Forderungen einer Betrachtungseinheit. Die geplante »Prozessgüte« ist im Rahmen des aktiven Gestaltungsauftrages des Nautikers abhängig von allgemeingültigen Regeln guter Seemannschaft, ergänzt oder spezifiziert durch Vorgaben des Reeders oder des Kapitäns, die Lehrmeinung für den Trainingsinhalt und / oder die Zertifizierung von Trainingsabläufen. Wer aber misst an Bord oder am Schiffsführungssimulator die Qualität der Prozessführung?

Gute Seemannschaft ist die Fähigkeit eines Kapitäns, ein Schiff anforderungsgerecht unter gegebenen Realisierungsbedingungen wirtschaftlich und sicher über See zu führen. Immer ist die gute Seemannschaft, ob nun ein Containerfrachter oder ein Passagierschiff zu führen sind, die qualitative Bedingung, unter der die partiellen Aufgaben der Schiffsführung auch vorausschauend ge­plant und aktuell gestaltet werden müssen. Sie ist eine wissens- und erfahrungsbasierte Norm, die auch auf hochtechnisierten Schiffen den Inhalt der Tätigkeit eines Nautikers bestimmt.

Der Seemannsbrauch als Einheit von Bildung, Qualifikation, Verantwortungsbewusstsein, Moral, Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten gewinnt dahingehend einen qualitativ neuen Wert, da er sich zunehmend über die Beschaffenheit und rationelle Nutzung der Schiffsführungstechnik realisiert. Er setzt sich aus der Gesamtheit von Bewertungen aufgabenorientierter partieller Prozesse, der Findung von Prioritäten und der Einschätzung möglicher Wirkungsfolgen zusammen. Ein Prozesszustand kann durch die Differenz zwischen der aktuellen Qualität der Aufgabenerfüllung und der normierten Qualität dieser Aufgabe bestimmt werden.

Mensch-Maschine-Systeme

Mit dem technischen Fortschritt in der Schiffsführung sind Veränderungen im Charakter der Arbeit des Nautikers an Bord einhergegangen. Nicht nur das Berufsbild hat sich geändert, sondern auch die Beziehungen zwischen Mensch und Technik finden auf einer neuen Erkenntnis- und Wider­spruchsebene statt. Diese Widersprüche aufzulösen ist bisher trotz verschiedenartiger Bemühungen nicht gelungen. Teilweise wird die Existenz von Widersprüchen geleugnet. Das resultiert dann in der Verhinderung von Bemühungen, der Schiffsführung als praktische ingenieurwissenschaftliche Disziplin neue Inhalte zu geben und darüber eine breite Diskussion mit Nautikern zu führen. Aber auch bei berechtigten Zweifeln an technischen Lösungen und Bildungsformen und -inhalten finden Interessenkollisionen statt, die die Diskussionen über das Neue einschränken. Defekte in der Beherrschung komplexer und komplizierten Prozesse und Systeme werden gegenwärtig durch die Kategorie »subjektiver Fehler / menschliches Versagen« ausgedrückt.

Zu diesem Zeitpunkt sind spezifische Schlussfolgerungen aus dem Unfall der »Costa Concordia« unmöglich. Laien wie Fachleute erwarten mit Spannung die Ergebnisse der Seeunfalluntersuchung und die speziellen Lehren aus diesem Fall. Wenn der Seeunfall der »Costa Concordia« einen »Sinn« haben soll, dann muss er dazu dienen, die Lösung der Probleme zwischen Mensch und Technik auf einem höheren und nachhaltigeren Niveau in Angriff zu nehmen. Dafür müssen die Nautiker als Partner und nicht als verbesserungswürdige Nutzer betrachtet und einbezogen werden.

Thesen und Anmerkungen zur Orientierung

1. Qualitativ neuartige Konflikte, insbesondere solche mit komplexem Entstehungscharakter, werden wegen unzurei­chender spezifischer Kenntnis ihrer Wechselwirkungen missverstanden. Mit den herkömmlichen Methoden der Prozess­analyse wird die Aufdeckung der wahren Ursachen für Fehlhandlungen bzw. Handlungsmängel an Bord erschwert (fehlende Einheit von materiell-technischen und immatriellen analytischen Verfahren in der Unfallursachen­erforschung).

Ursächlich dafür ist das Fehlen einer integrationsfähigen wissenschaftlichen Disziplin mit der Eigenschaft zu spezifischen, allgemeingültigen und prognostischen Aussagen. Moderne technische Systeme haben bisher nicht die Herauslösung des Menschen aus dem Schiffsführungsprozess nach sich gezogen (siehe Beispiel DGON-Bridge »Nautik PSI« usw.). Im Gegenteil: Die ­Bedeutung des subjektiven Faktors wird erhöht, die Rolle des Menschen in komplizierten Steuerungsprozessen wächst. Effektivität, Sicherheit und Zuverlässigkeit der Steuerung werden maßgeblich durch die kognitiven Leistungen des Menschen bestimmt. Entscheidungssituationen auf der Grundlage angebotener oder erlangter Informationen sind durch produktive und aktive intellektuelle Prozesse gekennzeichnet. Durch die Verlagerung von Entscheidungsakten auf Rechner kann der Mensch keineswegs aus seiner Verantwortung entlassen werden. Das nationale und internationale Seeunfallgeschehen weist durch den hohen Anteil subjektiv verschuldeter Unfälle (75–80 %) auf das Problem der Beherrschbarkeit von Schiffsführungsprozessen durch den Mensch hin. Die Forderung, aus der Erforschung der Ursache-Folge-Zusammenhänge prophylaktische Verfahren zur Gefahrenerkennung und -vermeidung abzuleiten, bleibt hoch aktuell [6].

2. Für den Erkenntnisgewinn ist das gegenwärtige Instrumentarium der traditionellen, zur Schiffsführung gehörenden ­Disziplinen nicht mehr ausreichend. Es ist notwendig, den Schiffsführungsprozess in seiner Komplexität zu beschreiben, den ­Gegenstand, die Ziele und Methoden zu ­definieren und Verfahren zur Analyse von Betriebszuständen zu entwickeln, um daraus Erkenntnisse für die sichere Prozessgestaltung sowie die Funktionsverteilung von Mensch und Maschine zu gewinnen. Technikwissenschaften haben die Aufgabe, exis­tierende technische Systeme empirisch und theoretisch zu analysieren, entsprechende Ergebnisse zu verallgemeinern und natur- und technikwissenschaftlich zu begründen.

3. Technische Möglichkeiten haben ein faszinierendes Ausmaß erreicht. Mit zunehmender Bedeutung muss dieser Faszination durch menschliche Bewusstheit, Verantwortung und hoher Moral begegnet werden. Persönlichkeitseigenschaften zur sinnvollen Anwendung der Technik werden aus der Sicht ihrer Wirtschaftlichkeit und Sicherheit immer wichtiger. Fragen der Qualitätsmessung und -bewertung, der Gefahrenbestimmung sowie der Definition und Anwendung »guter Seemannschaft« sind nicht beantwortet. Die für die Erfüllung des Reiseauftrages benötigten und zu verarbeitenden Informationen müssen einer vorausschauenden Strukturierung und Bewertung unterzogen und in ihren gegenseitigen Wirkungen auf die Qualität der partiellen Schiffsführungsaufgaben abgeschätzt werden. Sie bilden das »inhaltliche Gerüst« der Reise. Das erarbeitete mentale Modell ist die Grundlage zukünftigen Handelns. Es stellt die Erklärung bzw. Erläuterung für Denkprozesse über die in der Realität ablaufenden Prozesse dar, enthält Bedingungen, Ziele, mögliche ­Störungen, Handlungsabläufe und Organisationsfor­men über eigene Aktionen und kooperative Mitwirkungen [5].

4. Der Vorteil, den Schiffsführungsprozess numerisch immer schneller und exakter beschreiben zu können, wird dadurch aufgebraucht, dass der Mensch diesen Vorteil nicht mehr umzusetzen in der Lage ist. Trotz hohen gerätetechnischen Aufwandes wird der Prozess nicht sicherer und auch nicht wirtschaftlicher. Ursächlich dafür erscheint das Unvermögen, erfasste Daten und Signale einer notwendigen rechnergestützten Bewertung zuzuführen und damit eine anforderungsgerechte Situationsdiagnose zu ermöglichen. Die technologische Anwendung der Naturwissenschaften im Schiffsführungsprozess ist nicht allgemein mit der logischen Aneinanderreihung technischer Mittel und Verfahren zu einer technologischen Kette zu erklären.

Dazu gehören auch die wissenschaftliche Analyse des Schiffsführungsprozesses und seine Aufgliederung in die Teilphasen, die den Prozess selbst hervorrufen, die theoretische Verallgemeinerung empirischer Erfahrungen und vor allem die Prognose der zukünftigen Schiffsführungsprozesse. Die Qualität der »Steuerung« kann nachhaltig nur durch solche Lösungen verbessert werden, die die Verlässlichkeit von Mensch und Maschine in ihrer Gesamtheit zum Ziel haben. Dazu gehört unter anderem die rechnergestützte Situationsdiagnose. Neben der Erfassung und Darstellung von Daten enthält sie auch deren Bewertung. Zum operativen Ziel-Ist-Abgleich ist sie in grafischer Darstellung eine wertvolle Ergänzung für die prozessnahe Handlungs­regulation.