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Die nordirische Stadt bietet Touristen ein vielseitiges und informatives Programm rund um das berühmteste Schiff der Welt.

Jahrelang sind die Menschen im nordirischen Belfast fast schamhaft über die Tatsache hinweggegangen, dass die »Titanic«, das wohl berühmteste Schiff[ds_preview] der Welt, in ihrer Stadt auf der Werft Harland and Wolff gebaut wurde. Diese Einstellung hat sich jetzt gründlich geändert. Sogar an den Giebeln Belfaster Häuser, an denen sonst die bekannten Wandmalereien mit gegensätzlichen politischen Inhalten zwi­schen Katholiken und Protestanten zu sehen waren, zeigen jetzt viele Gemälde den gemeinsamen Stolz darauf, dieses Schiff gebaut zu haben. Ein neues Denkmal stellt die Arbeiter der Werft dar, und überall in der Stadt hängen Plakate mit Hinweisen zu Veranstaltungen rund um die »Titanic«. Sie werben für das »Titanic Belfast Festival«, das aus Anlass des hundertsten Jahresta­­ges der Schiffskatastrophe im April ausge­richtet worden ist.

Ein Festival angesichts eines schrecklichen Untergangs mit rund 1.500 Toten? »Als die ›Titanic‹ die Werft Harland and Wolff und unsere Stadt verlassen hat, da war sie in Ordnung«, ist von den Nordiren immer wieder zu hören. Schließlich habe man ein Schiff gebaut, das nicht nur zu den größten, sondern auch zu den technisch modernsten Schiffen seiner Zeit gehörte.

Zum hundertsten Jahrestag des Untergangs in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 hat die Stadt eine ganze Reihe von his­torischen Stätten, die mit dem Bau zusammenhingen, renoviert und in Erwartung von Besucherströmen zugänglich gemacht. Außerdem eröffnete sie ein hochmodernes, multimediales Erlebniszentrum, in dem die Geschichte des Untergangs nachvollzogen werden kann. Es steht an der Stelle, an der die »Titanic« auf dem Helgen wuchs und an der ihr Bug seinerzeit aufragte. Ein metallisch glänzender Bau, dessen vier spitz zulaufende Flügel in jeweils eine der Haupthimmelsrichtungen zeigen.

Die Besucher erwartet kein Rundgang durch ein herkömmliches Museum, in dem Ausstellungsstücke in Vitrinen liegen. Moderne Multimediatechnik ermöglicht es, Details der Pläne heranzuzoomen und Informationen zu erhalten, die den individuellen Interessen entsprechen. Die Darstellung vom Beginn der Jungfernfahrt zeigt beispielsweise die einzigen Fotos vom Alltagsbetrieb des Schiffes, die den Untergang überstanden haben. Sie nahm Father Frank Brown auf, ein Geistlicher, der den ersten Teil der Jungfernfahrt von Southampton aus mitmachte, aber schon im irischen Hafen Cobh wieder von Bord ging. So blieben seine Fotos als einzige erhalten.

In derjenigen Abteilung, die sich mit dem Untergang beschäftigt, sinkt die Temperatur, der Raum beginnt aufgrund optischer Effekte zu fließen, Morsecodes sind zu hören und die Stimmen von Überlebenden erzählen, was sie in diesen zwei Stunden und 40 Minuten zwischen der Kollision und dem Untergang durchlebt haben. Ein rekonstruiertes Rettungsboot gibt einen Eindruck davon, wie die viel zu wenigen Rettungsmittel aussahen, denen sich »Frauen und Kinder zuerst!« anvertrauten. Aus Lautsprechern sind die unbequemen Fragen zu hören, die allen Verantwortlichen vor dem britischen Untersuchungsausschuss gestellt wurden, der sich mit dem Untergang sehr viel eindringlicher und sachkundiger beschäftigte als der vorangegangene US-Untersuchungsausschuss.

Dann wieder gibt es eine Datenbank mit den Namen von Menschen, die an Bord waren. Die Besucher können recherchieren, ob diese überlebten oder aber mit dem Schiff untergingen. Auch die noch immer ungelös­ten Rätsel um den Untergang und die vielen Gerüchte um die »Titanic« werden dargestellt. Den Machern der Erlebniswelt »Titanic Belfast« ist es mit Multimediatechnik des beginnenden 21. Jahrhunderts gelungen, die Emotionen der Menschen zu Anfang des 20. Jahrhunderts und ihre Zeit, ihre Wertvorstellungen und ihren Alltag darzustellen.

Ganz tief unten in dem vierflügeligen Gebäude ist zu sehen, wie Robert D. Ballard 1985 das Wrack der »Titanic« in der Tiefe entdeckte. Hier können sich die Besucher wie in einem Tauchboot fühlen, mit dem

sie die Überreste umkreisen. Unmittelbar neben »Titanic Belfast« sind die originalen Werftanlagen von Harland and Wolff zu sehen, auf denen die »Titanic« gebaut und ausgerüstet wurde. Ein Rundgang mit sachkundigen Führern vertieft das Erlebnis und schafft Authentizität.

Das alte Hauptgebäude an der Queen’s Road mit den Büros und Zeichensälen ist bis heute ebenso unangetastet erhalten wie die zu klein gewordenen Trockendocks an der Clarence Wharf. Auch das Pumpenhaus, von dem aus das Dock gelenzt wurde, gibt es noch. Lediglich die beiden Schornsteine, aus denen der Rauch der Dampfmaschinen abzog, sind aus Gründen der Bau­stabilität mittlerweile gesprengt worden.

Für historisch interessierte Menschen ist es ein Glück. So kann man heute zu Fuß durch die alten Anlagen streifen und der »Titanic« so nahe sein, wie sonst nirgendwo auf der Welt. Das lockt zunehmend mehr Touristen an, sie wollen mehr von dem Mythos ergründen, der sich in den vergangenen 100 Jahren rund um dieses Schiff gebildet hat. Woher sie denn kommen, will die junge Touristenführerin wissen. England, Australien, Irland, Kanada, Italien, Deutschland, Österreich wird ihr zugerufen. Gesprochen wird während der zweieinhalbstündigen Führung Englisch.

Die Tour beginnt in der Moderne zwischen neuen Gebäuden mit ausgefallener Architektur. Dort, wo früher einmal Werft­arbeiter an Schiffen von der Größenordnung der »Titanic« nieteten, war lange Zeit eine Industriebrache übriggeblieben. Seit einigen Jahren entsteht dort ein neuer Stadtteil Belfasts, der den Namen »Titanic Quarter« trägt. Lange Zeit hatte man alles rund um dieses Schiff in Belfast geradezu schamhaft verdrängt, bis entsprechende Ausstellungen, Filme, Bücher und Fernsehbeiträge in aller Welt zeigten, welch starkes Interesse auch heute noch an ihm besteht und wie sehr es die Menschen immer noch fasziniert. Inzwischen ist man in Belfast geradezu stolz darauf, dass es in dieser Stadt gebaut wurde und welch große Leistung die damaligen Ingenieure und Werftarbeiter vollbrachten. Die nordirische Stadt war vor rund 100 Jahren Zentrum der fortschrittlichsten Technologie ihrer Zeit. Dann schließt die Führerin das grün gestrichene schmiedeeiserne Tor zu dem roten Sandsteingebäude an der Queen’s Road auf, in dem nicht nur die Geschäftsführung von Harland and Wolff residierte, sondern auch Buchhalter die Löhne der Arbeiter ausrechneten und in Lohntüten durch ein kleines Fenster auszahlten. Auch der alte Zeichensaal mit seiner tonnenförmigen Decke und den vielen Fenstern als Garanten für helle Arbeitsplätze ist noch erhalten. »Titanic«-Fans kennen diesen Raum von historischen Abbildungen. Heute stehen dort Stellwände mit alten Fotos und Plänen, die zeigen, wie die Titanic gebaut wurde, wie sie Stück für Stück wuchs, schließlich vom Stapel lief und nach Southampton auslief, wo ihre verhängnisvolle Jungfernfahrt begann.

Schweigend stehen die Besucher in dem Saal, in dem mit ersten Zeichenstrichen das wohl bekannteste Schiff der Welt seinen Ursprung nahm. Die meisten kennen sich aus mit der Geschichte der »Titanic«, sind sehr sachkundig. Viele nicken bei den Ausführungen der Fremdenführerin, kennen auch so die Namen von seinerzeit Beteilig­ten, Orten und Zahlen. Der Grund dafür, dass sie mit all ihrem Wissen jetzt hier sind, ist die Suche nach Authentizität, das Gefühl, unmittelbar am Ursprung, am Schauplatz zu sein.

Dieses Gefühl steigert sich noch an dem lang gestreckten Pumpenhaus, einem typischen Industriegebäude an der Wende zum 20. Jahrhundert. Davor ragt eine mehr als 10 m hohe Skulptur auf, unverkennbar der scharfe Bug eines Schiffes. Eine Schautafel erklärt, dass sie mehr als 16 t wiegt und weitgehend in den Produktionstechniken der damaligen Zeit nach den ursprünglichen Plänen gebaut wurde, deshalb halten sie mehr als 3.500 Nieten zusammen. Der Originalrumpf wog 46.382 t und mehr als drei Millionen Nieten waren zu seinem Bau nötig. Um den überwältigenden Eindruck noch zu verstärken, zeigt eine Schautafel daneben, welch einen kleinen Teil die riesig wirkende Nachbildung am Originalrumpf ausgemacht hätte.

Im Pumpenhaus stehen die blaumetallisch schimmernden Gehäuse jener Turbinen, mit deren Hilfe das alte Trockendock früher leergepumpt werden konnte. Sie wirken so gepflegt, als seien sie gerade erst abgeschaltet worden.

Ein letztes Schiff, das in Zusammenhang mit der »Titanic« gebaut wurde, gibt es auf diesem Gelände immer noch. Der Tender »Nomadic« brachte Passagiere der Ersten und Zweiten Klasse an Bord, weil das größte Schiff seiner Zeit den Hafen von Cherbourg gar nicht anlaufen konnte. An Bord des Zubringers, der ebenfalls von der Werft Harland and Wolff in Belfast stammt, waren so illustre Gäste wie Benjamin Guggenheim oder Cosmo Duff-Gordon. Nach einem bewegten Schiffsleben ist die »Nomadic« 2006 nach Belfast zurückgekehrt, liegt im Hamilton Dock nahe der alten Werftanlagen und wird restauriert. Im Herbst wird die Restaurierung abgeschlossen sein, das Schiff kann aber schon jetzt besichtigt werden.

Wie edel die Möbel für die »Titanic« ausgearbeitet waren, zeigt noch heute ein ausziehbarer, mit Intarsien verzierter Mahagonitisch in der Hafenbehörde von Belfast. Er war 1912 in der Tischlerei der Werft angefertigt, jedoch nicht rechtzeitig zur Abfahrt des Schiffes fertig geworden. So lagerte man ihn ein, um ihn bei der nächsten planmäßigen Abfahrt in Southampton an Bord zu bringen. Doch dazu kam es nicht mehr. Nun steht er in einem besonderen Zimmer der Hafenverwaltung, gedeckt mit edlem Kris­tall und Porzellan, das die Logos der White Star Line trägt.

Die Autos vor dem Plakat an der Fassade des Ulster Folk and Transport Museums in Holywood, einem Vorort von Belfast, wirken winzig; darüber ragen die drei Propeller der »Titanic« auf, so wie sie vor gut 100 Jahren im Dock von Harland and Wolff auf die Arbeiter gewirkt haben müssen, die das Riesenschiff ausrüsteten. Der Weg zu den Expo­naten führt durch einen verglasten Gang, in dessen Seitenscheiben Szenen vom Bau und dem Auslaufen der »Titanic« geätzt sind. So eingestimmt erreicht man die runde, zentrale Ausstellungshalle, in deren Mitte in einer mehrere Quadratmeter großen Vitrine der Bug des Schiffes in einer spiegelglatten Fläche versinkt. Besonders beeindruckend sind die kleinen Figuren am Rande des Modells, die vor Augen führen, wie die Menschen an Bord zwischen Erster, Zweiter, Dritter Klasse und Besatzung verteilt waren. Farbig sind die Figuren der Überlebenden, grau diejenigen der Ertrunkenen oder Erfrorenen. Die grauen Figuren überwiegen, besonders in der Dritten Klasse und bei der Besatzung. In anderen Vitrinen sind mehr als 500 Gegenstände zu sehen, die von dem gesunkenen Schiff geborgen wurden.

Belfast hat sich zur Stadt der »Titanic« erklärt und sieht in seiner Vergangenheit jetzt auch seine Zukunft. Die Stadt hat für »Titanic«-Interessierte ein vielfältiges touristisches Angebot zusammengestellt, das den Aufenthalt nie langweilig werden lässt – zumal ja neben dem berühmten Dampfer auch noch irische Pubs, eine lebhafte Musikszene und etliche weitere Sehenswürdigkeiten locken.


Eigel Wiese