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Um Schiffseigner schon in der Angebotsphase und Variantenplanung für Retrofit-Maßnahmen einzubeziehen, haben Experten ein Augmented-Reality-System entwickelt.
Zulieferer bieten verschiedene Lösungen an, damit Reeder die steigenden Anforderungen an den Emissionsschutz erfüllen können. Die unterschiedlichen Technologien haben unterschiedlichen[ds_preview] Platzbedarf und beeinflussen wichtige Schiffseigenschaften wie Gewicht, Ladekapazität oder Aufbauten. Um den Kunden die Auswirkungen und ihren Einfluss auf den Schiffsbetrieb zu verdeutlichen, soll der Kunde schon in der Angebotsphase in die Variantenplanung einbezogen werden. Dazu wurde im vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Verbundforschungsprojekt PROSPER (Produktivitätsmanagement in schiffbaulichen Produktionsprozessen ermöglichen) ein Augmented-Reality-System entwickelt. Es überblendet die Komponenten einer Abgasnachbehandlungsanlage der Realität an Bord und erlaubt es, das Anlagenmodell interaktiv zu verändern, wobei technisch unzulässige Lösungen ausgeschlossen werden. Der Reeder kann dadurch bereits in einer frühen Projektphase die Varianten mitbestimmen und mitgestalten. Die ausgewählten Varianten fließen direkt in den weiteren Konstruktions- und Planungsprozess ein.

Nachrüstung

Um die Emissionsrichtwerte der IMO-Richtlinie MARPOL Annex VI einzuhalten, werden unterschiedliche Lösungen am Markt angeboten. Dazu zählen der Einsatz von schwefelarmem Treibstoff, der Umbau auf Gasantrieb (LNG), die Reduzierung der NOx-Emissionen durch Selective Catalytic Reduction (SCR) oder die Reduzierung der SOx-Emissionen durch Scrubber-Technologie.

Der Einsatz von schwefelarmem Kraftstoff ist eine sofort verfügbare, wegen der höheren Treibstoffkosten auf Dauer allerdings unwirtschaftliche Lösung. Ein Umbau der Schiffe auf gasbetriebene oder hybride Antriebe setzt häufig einen Wechsel des gesamten Motors voraus. Zusätzlich vergrößert sich das Volumen des Kraftstoffs um etwa 80%. Die für den Einsatz eines SCR notwendigen Umbauten finden hauptsächlich am Abgasschacht statt, erfordern allerdings ebenfalls weitere Tanks. Die Scrubber-Technologie benötigt Tanks für frisches und gebrauchtes Granulat.

Abhängig von der gewählten Technologie zur Abgasnachbehandlung sind umfassende Umbaumaßnahmen am Schiff erforderlich. Da viele Komponenten für das spezifische Schiff konstruiert und gefertigt werden, ist es notwendig, den Retrofitprozess detailliert zu planen. Die Durchlaufzeit für die Nachrüstung beträgt momentan sechs bis zwölf Monate. Da alleine die Fertigung der Komponenten mehrere Monate in Anspruch nimmt und die Nachrüstung häufig während der Dockzeiten der Schiffe stattfindet, sind vorbereitende Arbeitsschritte besonders entscheidend. Dazu zählt insbesondere die Erstellung des Angebots. Der Reeder beauftragt häufig einen Dienstleister oder den Motorenhersteller als Generalauftragnehmer. Nach einer ersten generellen Machbarkeitsstudie (Initialisierung) wird die Ist-Geometrie des Schiffes erfasst und häufig über ein Reverse Engineering in ein vereinfachtes CAD-Modell überführt. Es dienst als Planungsgrundlage, weil der Ist-Zustand des Schiffes über den Lebenszyklus in der Regel sowohl vom Plan-Zustand als auch vom ausgeführten Bau abweicht. Daher nimmt der Auftragnehmer die Ist-Geometrie manuell mit dem Zollstock oder mit Hilfe geeigneter Technologien (z. B. Laserscanning) auf. Anschließend plant der Generalauftragnehmer die Komponenten in das vorhandene Schiff ein (Engineering), erstellt ein Angebot (Organisation und Kalkulation) und präsentiert dieses dem Kunden (Unterlagenbereitstellung). Der Kunde ist im Angebotserstellungsprozess bislang Ansprechpartner, nimmt jedoch meist nicht aktiv teil.

Die Angebotserstellung ist häufig schwierig. Das liegt erstens daran, dass die Umbaumaßnahmen in der Regel sehr umfangreich sind und den Betrieb des Schiffes beeinflussen. Daher ist das Verständnis des Kunden für die Problemstellung und eine Diskussion über die Lösung sehr entscheidend. Zweitens erschwert die klassische Planung neuer Komponenten mithilfe des Generalplans das Verständnis schon deshalb, weil er nicht den aktuellen Zustand des Schiffes abbildet. Und drittens sind die Diskussion und Erstellung verschiedener Varianten sowie die Integration von Ideen des Kunden mit Generalplänen kaum umsetzbar.

Damit ergeben sich drei Hauptziele, nämlich die Integration des Kunden in den Entscheidungsprozess, die Visualisierung der Maßnahmen und die Planung von Varianten. Augmented Reality (AR) kann helfen, diese Ziele zu erfüllen. Die größten Potenziale ergeben sich aus der Darstellung von 3D-Informationen direkt am Objekt und aus dem Einsatz als Diskussionsplattform.

Kundenintegrierte Planung

Augmented Reality ermöglicht es, Zusatzinformationen – etwa Geometrie- und Metainformationen – in eine reale Umgebung einzublenden. Als Hardware für das entstandene AR-System wurden Tablet-Computer ausgewählt, da AR-Brillen zum heutigen Zeitpunkt keine praxistaugliche Lösung darstellen. Tablets können durch mehrere Personen gleichzeitig genutzt werden und erlauben eine ausreichend genaue Interaktion.

Die entwickelte Software zur Unterstützung der Angebotsphase wurde in ihrer Funktionalität an den steigenden Informationsgehalt während der Projektlaufzeit angepasst und umfasst zwei sich ergänzende Teile:

Die Angebotsvisualisierung einerseits erlaubt eine Präsentation der Systemkomponenten am realen Objekt, so dass der Generalunternehmer die angebotene Lösung in der echten Umgebung auf dem Schiff vorstellen kann, wie z. B. die SCR-Komponenten in Bild 1. Obwohl die Komponenten geometrisch korrekt angezeigt werden, scheinen sie nicht an die Umgebung angepasst zu sein – sie scheinen vor dem Schornstein auf dem Fahrzeugdeck zu stehen. Dieser Nachteil, der durch die in einem frühen Angebotsstadium noch nicht vorliegenden Umgebungsinformationen verursacht wird, wird aufgewogen durch die Chance, mit einer sofortigen Visualisierung eine vertiefte Diskussion mit dem Kunden beginnen zu können.

Die Variantenplanung andererseits bietet – aufbauend auf der Angebotsvisualisierung – Möglichkeiten zur Interaktion und damit zur Veränderung des Lösungsvorschlags. Das AR-System stellt die Komponenten nun korrekt am Objekt dar. Dabei kann der Benutzer zwischen unterschiedlichen Visualisierungen wählen. Ein Röntgenblick ermöglicht einen Blick auf die Komponenten durch die vorhandene Struktur. Über weitere Optionen können Verdeckungen dargestellt werden. Dabei berücksichtigt das System die real vorhandenen Kanten und verdeckt damit die neuen Komponenten. In Bild 2b entsteht so der Eindruck, dass das Rohr durch das grün-gelbe Objekt verläuft, das seinerseits von der Plattform verdeckt wird.

Einsatz im Prozess

Ein Ziel der Arbeit war es, die Kunden in die Entscheidungsprozesse zu integrieren. Ein Fokus für eine Entscheidung liegt vor allem auf dem Platz- bzw. Umbaubedarf. Dazu können mehrere Layoutvarianten visualisiert werden, die der Generalauftragnehmer mithilfe des entwickelten AR-Systems mit dem Kunden besprechen kann. Dabei ermöglicht es das System, die im Vorfeld vorbereiteten Varianten zu ändern und neue Varianten zu erstellen. Der Generalauftragnehmer kann auf die unterschiedlichen Kundengruppen individuell eingehen. Beispielsweise kann er dem ersten Offizier die Wartungsräume und die Zugänglichkeit der neuen Anlage darstellen. Dabei lassen sich benötigte Freiflächen direkt planen. Diese Erkenntnisse fließen in das Engineering und die Kalkulation des Angebots ein. Der Kunde erhält so die Möglichkeit, den Umbau mitzugestalten. Für den Zulieferer sind das sehr wertvolle Informationen, die spätere Probleme, wie z. B. eine mangelhafte Zugänglichkeit, reduzieren oder sogar vermeiden.

Praxistest bestätigt Vorteile

Das Augmented-Reality-System wurde zunächst zur Visualisierung von Komponenten einer Abgasnachbehandlungsanlage und die Planung verschiedener Layoutvarianten entwickelt. Die Komponenten können mit geringem Aufwand vor Ort am Schiff dargestellt werden. In einem weiteren Schritt ermöglicht das System die Planung von Varianten. Dabei kann der Benutzer unterschiedliche Layoutvarianten selbst erstellen und speichern. Der prototypische Einsatz des entwickelten AR-Systems an einem Praxisbeispiel hat die Vorteile gegenüber anderen Plattformen bestätigt. Dem Kunden wurden die geplanten Veränderungen direkt visualisiert und er konnte eigene Ideen einbringen.

Dieser Beitrag basiert auf einer Veröffentlichung anlässlich der Fachkonferenz

COMPIT 2015


Fedor Titov, Axel Friedewald und Hermann Lödding