Das weltweit erste vollelektrische und autonome Schiff wird mit Spannung erwartet. Der Bau soll in diesen Tagen starten, doch vor einer Realisierung sind noch einige Fragen zu klären. Es geht um Regularien,Technologien und den Zeitplan. Ein genauer Blick vor Ort offenbart die relative »Größe« des Projekts. Doch in Norwegen ist man optimistisch, auch dank großer staatlicher Unterstützung.

Der Blick schweift aus 110m Höhe vom Dach der Düngemittelfabrik – einst immerhin das höchste Gebäude Norwegens – über den Frierfjord. Früh[ds_preview] am Tag teilen sich in malerischer Küstenkulisse noch die herbstliche Sonne und der morgendliche Dunst die meteorologische Oberhand über das Industriegelände des Yara-Konzerns.

Wechselt der Betrachter die Blickrichtung, sieht er eine große Baustelle in Südnorwegen, Tonnen von Schutt und schweres Gerät, direkt an der Wasserkante. Beim autonom-elektrischen Projekt »Yara Birkeland« ist vieles eine Frage des Blickwinkels. Doch dazu später mehr.

Fast schade, so könnte man mit dem Blick eines Seemanns denken, dass hier kein neuer Job entsteht, obwohl und wenn das mindestens so ehrgeizige wie innovative Schiffsprojekt »Yara Birkeland« hier realisiert werden wird. Denn das ausgeklügelte Logistikkonzept sieht keine Besatzung vor. Vielmehr soll der Hauptbestandteil ein vollelektrisches, autonom fahrendes Containerschiff sein – das erste seiner Art überhaupt, und zwar weltweit. Soviel ist in der Schifffahrtsgemeinde mithin bekannt, die PR-Maschinerie läuft seit zwei Jahren auf Hochtouren. Keine Messe, kaum eine Branchenkonferenz ohne das Projekt, das der Düngemittelkonzern aufgesetzt hat. Dafür hat er sich sukzessive Partner mit großen Namen gesucht. Für die Systeme an Bord des 120TEU-Frachters zeichnet das ebenfalls norwegische Unternehmen Kongsberg verantwortlich, für die Abläufe an Land – auch der Umschlag soll autonom ablaufen – hat man sich die Expertise von Kalmar aus der finnischen Cargotec-Gruppe gesichert. Auch der norwegische Staat mischt kräftig mit, treibt das Projekt mit Millionen an Fördermitteln voran. Ganz nebenbei ist er auch noch Mehrheitseigner des Rüstungs- und Technologiekonzerns Kongsberg – wie passend. Ministerpräsidentin Erna Solberg von der konservativen Høyre-Partei ließ es sich nicht nehmen, bei der Auftragsvergabe persönlich dabei zu sein.

Sowohl Yara als auch der Staat greifen tief in die Tasche, um sich als Vorreiter der autonomen und elektrischen Schifffahrt zu positionieren. Allein der Auftragswert für das Schiff liegt bei 250Mio. NOK (rund 26Mio. €). Die Regierung öffnet ihre vom Offshore-Öl-Markt gut gefüllten Taschen und stellt 133Mio.NOK zur Verfügung, also knapp die Hälfte des Schiffswerts.

Der Name »Yara Birkeland« – zuweilen hört man den Spitznamen »Tesla of the Seas« – ist in der Branche zu einem stehenden Begriff geworden. Nicht zu Unrecht, denn das Projekt ist tatsächlich innovativ und vielversprechend, zudem wird es mit hohem Tempo vorangetrieben. Erst vor zwei Jahren war die Idee geboren worden, als der Yara-Mitarbeiter Bjørn Tore Orvik über eine bessere Umwelteffizienz der Konzernlogistik sinnierte und bei Kongsberg eine erste Meinung einholte – eine überaus positive. Blickt er vom Yara-Tower auf den Frierfjord, sieht er weder die offenen Fragen noch die Baustelle, sondern vor allem das Potenzial für Innovationen und ein neues Schiff.

Die Beteiligten profitieren von dem in einigen Teilen Skandinaviens kultivierten Kooperationsgedanken. Die Norweger beschreiben es in englischer Sprache als »collaboration«, was sogar eine stärkere ökonomische Konnotation als »cooperation« hat, jedoch weniger negativ belastet ist wie etwa in der deutschen Sprache. Man zieht an einem Strang, sobald man sich gefunden hat. Aber um es vorwegzunehmen: Dies ist keine, vor allem keine vergleichende, Geschichte über die Cluster-Kultur. Auch wenn die norwegische Struktur zweifellos nützlich ist. Das Argument der Kooperation dient hier vor allem als Erläuterung für den Optimismus, auf den noch zu sprechen kommen wird.

Aber worum geht es eigentlich im Detail? Ein genauerer Blick lohnt sich.

Yara will die »Yara Birkeland« für die konzerneigenen Transporte von der Fabrik bis in die Exporthäfen Larvik und Brevik nutzen, in nationalen Gewässern über 27 und 7,5sm. Ersetzt werden teurere, umweltschädlichere und in der Summe aufwendigere Landtransporte über 39 und 13km. Die wichtigsten Komponenten: Für den vollelektrischen Antrieb sorgen Lithium-Ionen-Batterien mit einer Gesamtkapazität von 6,8MWh. Sowohl der Schiffs- als auch der Umschlagbetrieb sollen autonom erfolgen.

Allerdings gibt es noch einige Baustellen, sowohl mit Beton als auch mit Technologie und Paragraphen. Aber um es vorwegzunehmen: Skepsis lassen sich die Beteiligten nicht einreden.

Nach der Ablieferung des Schiffs im Jahr 2020 ist der autonome Betrieb nicht unverzüglich möglich. Dessen Start wurde auf 2022 verschoben – um auf die Rechtslage zu warten und die Systeme zu testen, wie es offiziell heißt. Mit Seeleuten in einer provisorischen Schiffsbrücke und Hafenarbeitern auf den Kranen.

Zwar steht der traditionelle erste Stahlschnitt für das Schiff in diesen Tagen an. Die rumänische Vard-Tochterwerft Braila arbeitet am Kasko. Für die endgültige Fertigstellung wird die »Yara Birkeland« 2019 zur Vard-Werft in Brevik gebracht. Vor dem Baustart gab es allerdings eine erste Verzögerung. Eigentlich wollte man schon Monate früher beginnen. Man tüftelte jedoch an der Stabilität des Schiffs, wie Ketil Olaf Paulsen von Kongsberg ein paar Kilometer weiter nördlich in Horten bestätigt. Im dortigen Forschungszentrum hat das Unternehmen viel Zeit in die Entwicklung investiert.

»Cyber-Sicherheit? Wir haben bewiesen, dass wir es können!« Ketil Paulsen, Kongsberg

»Es war nicht so leicht, aber jetzt sind wir sehr zufrieden«, so der Technologie-Direktor. Den Schwerpunkt des Open-Hatch-Schiffes habe man niedriger setzen müssen. Schlussendlich entschied man sich für ein Design mit zwei Ballasttanks, mit denen das Schiff getrimmt werden kann, ohne extra Ballastwasser aufnehmen oder abgeben zu müssen.

Aber: In Paulsens Zuständigkeitsbereich sind damit nicht alle offenen Fragen beantwortet. Eine weitere ebenso schwierige wie wichtige Aufgabe muss noch für die Anlegemanöver gelöst werden. »Wir arbeiten an einem Auto-Mooring-System. Noch sind wir nicht fertig«, sagt Paulsen. Fest steht, dass es mit Roboterarmen, Seilen und Winden konfiguriert wird.

Allen Beteiligten ist klar, dass sehr komplexe Prozesse durchdacht werden müssen. Paulsen erkennt die Grenzen an: »Keine Firma der Welt hat heute die gesamte Palette an Autonomie-Technik. Wir müssen kooperieren.« Kongsberg selbst liefert Systeme für den Schiffsbetrieb, für die gesamte Logistikkette sei jedoch »mehr« nötig.

Der Rückgriff auf mehrere Partner birgt allerdings eine Problematik in sich, die sich als eine der schwerwiegendsten darstellt: Die verschiedenen Systeme müssen nicht nur technisch in einen Gesamtkomplex integriert werden. Das ist zwar auch eine Herausforderung, sie lässt sich jedoch mit dem gemeinsamen Knowhow verhältnismäßig leicht meistern. Eine größere Hürde ist hingegen die Sicherheit und die Vermeidung von Kollisionen. Für die »Yara Birkeland« setzt man auf bekannte Technologien, beispielsweise Kameras, Satelliten-Daten (AIS), digitale Seekarten (ECDIS), GPS sowie Instrumente für die Abstandsmessung wie Radar und Lidar.

Manch einer meint, dass auch für den Schutz vor Cyber-Attacken in der fahrenden Flotte schon heute ausreichende Instrumente verfügbar sind. Schließlich ist das Thema nicht gänzlich neu. Bei einem autonomen Betrieb gibt es allerdings eine größere Anzahl anfälliger Komponenten, weil es eine ausgeprägtere IT-Verbindung zwischen Land und Schiff gibt. Im Notfall muss von außen in die Bordsysteme eingegriffen werden können. Kongsberg hat für seine militärischen Aktivitäten schon Erfahrungen mit der Problematik gesammelt und Produkte parat. Sie dürfen im »zivilen« Markt jedoch nicht genutzt werden. »Wir haben bewiesen, dass wir es können und auch für das Schiff eine abgesegnete Lösung«, beteuert Paulsen.

Bald auch Rolls-Royce an Bord?

Geht alles seinen geregelten Gang, kommt bald ein weiterer Partner hinzu, dessen Systeme integriert werden müssen. Kongsberg wartet auf die kartellrechtlichen Genehmigungen zur Übernahme des kommerziellen Marine-Geschäfts von Rolls-Royce. Der Technologiechef will dazu wegen des laufenden Verfahrens nichts sagen, lässt sich aber zu einem Kommentar bewegen: »Es würde perfekt passen. Rolls-Royce hat Expertise für Steuerungszentren, wir für Bordsysteme.« Tatsächlich hat der bisherige Wettbewerber schon einige Erfahrung gesammelt, etwa beim vielbeachteten Projekt eines ferngesteuerten Schleppers der Reederei Svitzer (HANSA 01/2018).

Ob der gesamte Technikkomplex reibungslos funktionieren werde? »Woher sollen wir das wissen?«, so Paulsens Gegenfrage, die er sogleich selbst beantwortet: »Es sind viele Szenarien denkbar. Also müssen wir im Vorfeld ausgiebig simulieren und testen.« Daran arbeite man mit Forschungseinrichtungen und Behörden, die sehr unterstützend und zugänglich seien.

Die Sicherheitsproblematik ist ein weiterer Grund dafür, dass der autonome Betrieb nicht umgehend gestartet werden kann: die nötigen Genehmigungen für die technologischen Neuerungen fehlen. Dafür wiederum mangelt es an einer rechtlichen Grundlage. Alle existierenden Schifffahrtsregularien beziehen sich auf den bemannten Betrieb. Angesichts der langwierigen Entscheidungsprozesse in der Internationalen Schifffahrtsorganisation (IMO) ist mit globalen Regeln nicht zeitnah zu rechnen. Also wollen die Norweger mit einer eigenen Rechtsgrundlage vorpreschen. Da die »Yara Birkeland« nur in nationalen Gewässern fahren soll, ist dies unproblematisch. Nötig sind Neufassungen von Lotsen- sowie Hafen- und Wasserwegegesetz.

In den Augen von Svein Medhaug, Projektleiter bei der Norwegian Maritime Authority (NMA) ist die entscheidende Frage, ob ein neues System das gleiche Maß an Sicherheit gewährleistet wie bekannte Instrumente. Auch der NMA-Vertreter betont die Zusammenarbeit von Behörden, Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Klassifikationen. »Alle müssen noch etwas tun, aber jetzt ist erst einmal die Regulierung an der Reihe«, meint er. Von der informellen sei man nun in die formale Phase eingetreten.

Unklar ist noch, wer die letztendliche Verantwortung bei Problemen oder Havarien trägt, also haftbar ist. Einige Beobachter würden sie am ehesten beim Technologie-Hersteller verorten. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es der Betreiber des Schiffes ist, der die Verantwortung trägt. Auch Medhaug sieht das so.

Sicherheitsexperte Trond Langemyr von der norwegischen Küstenverwaltung kündigt eine tiefgehende Analyse des Konzepts für 2019 an. Denn ohne Besatzung und deren Bord-Einrichtungen wird auch eine Aufrechterhaltung des Lotsendienstes schwer. »Aber wie bekommen wir das Lotsen-Knowhow? Wir müssen dafür Sorge tragen, dass alle Seekarten und Informationen im System – entweder an Bord oder im Kontrollzentrum an Land – integriert sind, dann könnten wir auf eine Lotsenpflicht verzichten.« Falls es dennoch zu Problemen komme, gebe es eine neue Option: Über ein Sicherheitssystem steuert das Schiff automatisch zu einem von mehreren auf der Route festgelegten Punkten und wirft dort Anker. »So etwas gibt es neuerdings, aber die Genehmigung steht noch aus«, berichtet Langemyr.

Zu der breit angelegten Kooperation gehört auch die norwegisch-deutsche Klassifikationsgesellschaft DNV GL. Dort setzt man auf eine komplett neue Regulierung: »Ein Basteln an existierenden Codes ist nicht zielführend«, sagt Forschungsdirektor Bjørn Johan Vartdal. Entscheidend ist für ihn die sogenannte Lageerkennung durch das System (»situational awareness«). Heute kann man in Norwegen noch keine autonomen Schiffe betreiben. Nötig sei ein stabiles Kommunikationsnetz für den immensen Datentransfer. Wobei, so betont Vartdal, damit lediglich das Fundament geschaffen wäre, ein Mangel bleibe: »Das Senden und Empfangen der Daten ist die kleinere Herausforderung. Das Problem ist der Algorithmus. Er muss verstehen, was er mittels der Sensoren sieht. Die Kombination von Software und Sensor muss verbessert werden«, moniert er.

Das Projekt ist kein Selbstzweck, ebenso wenig wie die Attraktivität der Küstenlandschaft. Von Schönheit allein wollen die Norweger nicht leben. Die Wasserkraft von der Küste sorgt beispielsweise für 80% der nationalen Stromproduktion. »Die Entwicklung autonomer Autos findet woanders statt. Aber bei autonomen Schiffen gibt es den größten Fortschritt in Norwegen. Wir wollen Vorreiter sein«, sagt Brage Baklien, Staatssekretär im Transportministerium und Mitglied der Fortschrittspartei, nicht ohne eine gute Portion politischen Selbstbewusstseins.

Autonomie ist Mittel, nicht Ziel

Ungeachtet einiger offener Detailfragen denkt man im Cluster schon weiter – und größer. Lässt sich »Yara Birkeland« erfolgreich etablieren, sei es nämlich ein echter Business Case, und somit eine Exportmöglichkeit. Die autonome Schifffahrt ist nicht das Ziel, sondern aus ökonomischer Sicht das Mittel. Ganz nebenbei könnte man auch in der internationalen Schifffahrtspolitik eine größere Rolle spielen, sozusagen als Rechts-Exporteur, wenn EU und IMO auf die Basisarbeit der Skandinavier zurückgreifen.

Die technische Integration und die Regulierung sind die Hauptgründe dafür, dass Yara, Kongsberg und Co. ihren ursprünglichen Zeitplan reißen. Bis man ein autonomes Schiff durch den malerischen Frierfjord fahren sehen kann, wird einige Zeit ins Land gehen. Noch fällt der Blick lediglich auf einen großen Industriekomplex und viel Schutt. Vom Dach der Yara-Fabrik lässt sich aber erahnen, in welchen Dimensionen hier gedacht wird.


Michael Meyer