Die Schifffahrt und (Kanadas) Politik wollen die arktische Nordwestpassage stärker erschließen. Ein wichtiger Faktor: der Polar Code. Doch weder Umweltschützer noch Reeder sind vollends zufrieden. Von Michael Meyer
Neben der Nordostpassage nördlich von Russland wird auch der Nordwestpassage großes Potenzial für mehr arktische Verschiffungen beschieden. Mit transozeanischen Transporten[ds_preview] durch die nordkanadische Inselwelt ließen sich die weit südlicher gelegenen Wasserstraßen Panama-Kanal und Suez-Kanal umgehen. Auf diese Weise könnte die Handelsschifffahrt über 2.700sm sparen.
Noch allerdings sorgt das Abschmelzen der Polkappen für den umgekehrten Effekt. Eismassen lösen sich und driften südwärts, wo sie die Gewässer zeitweise komplett unpassierbar machen. Aufgrund der extremen Eisbedingungen im Jahr 2018 wurde die Nordwestpassage – von der Baffin-Bucht bis zur Beaufort-See – nicht vollständig für die Schifffahrt geöffnet. Die Eisbrecher der Küstenwache eskortierten allerdings kommerzielle Seeschiffe für die Versorgung der Gemeinden in der westlichen Arktis, bestätigt die kanadische Regierung auf HANSA-Anfrage. Auch im Amundsen-Golf gab es schweres Eis, daher konnte das Gebiet eine Zeitlang nicht ohne Eisbrecherhilfe passiert werden. Offiziellen Statistiken zufolge gab es 93 Eskorten mit sieben Eisbrechern für 166 Schiffe, darunter Tanker, Kreuzfahrer, Bulker, Schlepper und Fischereischiffe. Die Zahl der kompletten Passagen schrumpfte von 31 (2017) auf 5 (2018). Bei »teilweisen Transiten« gab es einen Rückgang von 14 auf 12. Ab Mai soll die neue Saison beginnen.
Streitpunkte bleiben
Die Hoffnung auf kürzere Transite wird stets – wenn auch von anderer Seite – von Sorgen um die sensible Ökologie flankiert. Um den Bedenken von Umweltschützern gerecht zu werden und die Sicherheit in der wenig erschlossenen Region zu verbessern, hat die Internationale Schifffahrtsorganisation IMO vor Jahren den »Polar Code« verabschiedet, der einen umfassenden Katalog harmonisierter Regularien, Vorschriften und Empfehlungen vorhält (siehe S. 22). Die meisten Beteiligten zeigen sich mit dem Regelwerk durchaus zufrieden, ein gerade im Verhältnis zwischen Schifffahrt und Umweltschutz eher seltenes Phänomen. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich allerdings noch immer Streitpunkte.
Helio Vicente, Manager beim internationalen Reederverband ICS bezeichnet den Code als »historische Errungenschaft zur Verbesserung der Umweltleistung der Schifffahrt in der Arktis und zum Schutz der in der Region operierenden Schiffe«. Aufgrund der erwarteten Zunahme der Schifffahrtsaktivitäten gebe es aber noch Verbesserungsbedarf: Lange Zeiträume der Voranmeldung seien nicht praktikabel »und mit der Funktionsweise der Schifffahrtsmärkte unvereinbar«. Zur weiteren Erschließung der Nordwestpassage muss aus Sicht der ICS zudem in die Infrastruktur investiert werden. »Dazu gehören Navigationshilfen, Seekarten, Satellitenkommunikation, Bunkereinrichtungen, Annahmestellen für Schiffsabfälle, Lotsendienste sowie Such- und Rettungseinrichtungen«, sagt Vicente.
Zusätzliche Vermessungen seien nötig, um die arktischen Navigationskarten wenigstens »auf ein akzeptables Niveau« zu bringen. »Darüber hinaus werden Systeme benötigt, die die Erfassung, Analyse und Übertragung von Meereis- und Eisbergdaten in Echtzeit an Schiffe ermöglichen.« Doch damit nicht genug: Nicht zuletzt fordert er, das hohe Entgelt für Eisbrecher und andere Dienstleistungen zu untersuchen, wenn die arktischen Seerouten eine wirtschaftlich tragfähige Alternative zum Suezkanal oder zu den transpazifischen Seerouten darstellen sollen.
Ein Experte, der sich seit langer Zeit mit der arktischen Schifffahrt beschäftigt, ist James Bond, Senior Technical Director bei der Klassifikationsgesellschaft ABS. Er sieht die Branche noch in der Phase des Erfahrungsaufbaus: »Erfahrene Operator sind mit dem Polar Code vertraut, aber sie empfinden die Anforderungen an Rettungsmaßnahmen als zu hoch.« Für viele »Neueinsteiger« sei dies sogar ein Augenöffner, so Bond.
Kanada investiert und initiiert
Ein weiterer Streitpunkt könnte ein Verbot von Schweröl (HFO) werden, wie es für die Antarktis bereits seit 2011 gilt und wie es auch für die Arktis debattiert wird. »Es zieht sich hin und wird vom Sulphur Cap 2020 überlagert«, sagt Bond, der auch die Entsorgung von Grauwasser auf der arktischen Agenda stehen sieht.
Gerade beim HFO-Verbot sind Umweltschützer sehr aktiv. Andrew Dumbrille kümmert sich bei der Organisation WWF um die Schifffahrt. Aus seiner Sicht ist der Polar Code ein »guter erster Schritt«. Für einen wirklichen Schutz der Ökologie und der Menschen fordert Dumbrille jedoch, dass die Gesetzgebung ein vollständiges Verbot von Schweröl durchsetzt. »Kanada und Russland sind die einzigen beiden Arktisstaaten, die sich nicht für ein solches Verbot ausgesprochen haben«, kritisiert er. Dem WWF ist zudem wichtig, das Risiko von Unfällen zu reduzieren. Vorgeschlagen werden Korridore mit geringer Verkehrsbelastung und reduzierter Reisegeschwindigkeit.
Kanada ist indes nicht untätig. Die regierende Liberale Partei mit ihrer tendenziell links- und ordoliberalen Ausrichtung sucht einen gesunden Mittelweg.
Ein Sprecher aus dem Küstenschutz-Ministerium nennt als Beispiel den 2016 initiierten, 1,5Mrd. $ schweren Fünfjahresplan zum Schutz der Meere (Oceans Protection Plan, OPP). Damit soll der Schutz der Wasserwege und die Sicherheit der Navigation verbessert werden. »Wir setzen uns dafür ein, Lücken in der Hydrographie zu schließen, insbesondere in der Arktis. Mit dem OPP können wir Daten besser erfassen und die Seeleute mit aktuellen Informationen versorgen«, so der Sprecher. Aus dem Verkehrsministerium heißt es, mit der Umsetzung des Polar Code in nationales Recht habe man »die bedeutendste Aktualisierung zur Vermeidung von Umweltverschmutzungen seit über 20 Jahren« vorgenommen.
Als glücklicher Umstand könnte sich erweisen, dass Kanada ein hohes Eigeninteresse an der Erschließung der arktischen Gewässer hat – die internationale Schifffahrt könnte als Trittbrettfahrer davon profitieren.
36.000 Inseln
Erstens werden die nördlichen Territorien zum größten Teil über maritime Transporte versorgt. Zweitens würde eine bessere maritime Infrastruktur auch der effizienteren Ausbeutung von Rohstoffvorkommen dienen. Kanada hat immerhin die drittgrößten Erdölreserven der Welt und liegt auf Rang 4 in der Erdgas- und Erdölförderung. Zudem verfügt das Land über weitere minerale Rohstoffe. Für all das spielt die Schifffahrt eine tragende Rolle.
Es gibt einiges zu tun. Die arktische Region des Landes umfasst nach offiziellen Angaben 4,4Mio. km2 Fläche und 36.000 Inseln. 47% der Fläche liegen unter Wasser mit einer Vielzahl an Buchten, Zuflüssen und Kanälen. Die Behörden gestehen unumwunden ein, dass zwar die gesamte Region erfasst, aber nur 28% der Schifffahrtswege »adäquat« oder »modernen Standards entsprechend« kartographiert sind.
Von potenziell großer Bedeutung für die arktische Schifffahrt ist auch das von der Regierung aufgelegte Förderprogramm für Infrastrukturprojekte. Bis Ende 2018 wurden im Rahmen des »National Trade Corridors Fund« 800Mio. $ freigegeben. Im November wurde schließlich der »Northern call for proposals« veröffentlicht, mit der Begründung, dass gerade der Norden »dringend« Investitionen benötige.
Zu den politischen Anstrengungen zählt ein milliardenschweres Schiffbauprogramm. Die »National Shipbuilding Strategy« soll der darbenden Werften helfen sowie die Küstenschutz- und Vermessungsflotte erneuern, explizit auch für arktische Gewässer. Schiffe werden überholt, im Ausland gekauft oder neu gebaut, so auch Eisbrecher und Patrouillenboote.
Die Vorzeichen stehen also nicht schlecht, dass die Nordwestpassage wirtschaftlich und ökologisch nachhaltig erschlossen werden kann.
Michael Meyer