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Wer zahlt was bei einer Havarie-grosse? Und was haben somalische Piraten damit zu tun? Schon bei der Entführung selbst sorgte die »Longchamp« für Aufsehen. Das juristische Nachspiel hatte es ebenfalls in sich. Von Michael Meyer

Gerichtsprozesse rund um die Piraterie im Indischen Ozean drehten und drehen sich eigentlich vor allem um die Strafverfolgung festgenommener Somalier[ds_preview]. Soziale Hintergründe, Alter, Strafmaß – all das gehört zu den Fällen, die weltweit verhandelt werden. Doch es gibt auch Fälle, die sich mit dem bestehenden Schifffahrtsrecht befassen. Aktuell gibt es Diskussionen um den Fall »Eleni P«, bei dem darum gestritten wird, ob eine Entführung den Charterer berechtigt, das Schiff off-hire zu setzen.

Solche Prozesse können das Rechtsverständnis maßgeblich beeinflussen. So wie es der Fall »Longchamp« tat, der sogar vor dem britischen Supreme Court landete. Acht Jahre dauerte das Verfahren. Dabei ging es nicht um die stets schwierigen Beweisführungen gegen somalische Piraten, sondern schlicht und ergreifend um bares Geld.

»Handelt es sich überhaupt um eine Havarie-grosse, wie vom Eigner behauptet, müssen also alle Beteiligten einen Anteil zahlen?«, fasst Philippa Reid zusammen, aus der Hamburger Niederlassung der Kanzlei Clyde & Co, die sich mit dem Fall beschäftigt und juristische »Notizen« dazu veröffentlicht hat. Es ging um eine Neuinterpretation der in der gesamten Branche hochangesehenen »York Antwerp Rules«, die den Standard setzen, wenn es um Fragen der Verlust- und Risikoteilung geht.

York-Antwerp-Rules im Fokus

Diese Entscheidung war eine der ersten, die sich mit den Rules überhaupt befasst haben. Bisher wurden sie so genommen, wie sie sind. Das hat sich geändert – mit Konsequenzen. Daher lohnt sich ein Blick auf den Fall »Longchamp«, auch wenn er schon 2017 geschlossen wurde – als Beispiel dafür, wie ein Fall die Rechtsauffassung auf den Kopf stellen kann.

Mit Vinylchloridmonomer beladen war der Chemikalientanker 2009 – bereedert von Bernhard Schulte für MPC Capital – auf dem Weg von Norwegen nach Vietnam gekapert worden. 51 Tage waren Schiff und Crew in der Hand der Piraten. Es gab, wie üblich, eine hohe Lösegeldforderung, die, wie üblich, heruntergehandelt wurde und, wie üblich, in einer Lösegeldzahlung mündete. Die ursprüngliche Forderung betrug 6Mio. $, gezahlt wurden letztlich 1,85Mio. $.

Der Schiffseigner erklärte schließlich General Average, vor allem, um einen Teil der durch die Attacke entstandenen Kosten von den anderen Transportbeteiligten zurückzubekommen.

So weit, so üblich. Dann aber wurde es kompliziert. Üblich ist ein Gang vors Gericht im Fall von Havarie-grosse nicht wirklich. Das Gros der Streitigkeiten wird außergerichtlich beigelegt.

Das Argument des Reeders war: Weil die Verhandlungen zu einem geringeren Lösegeld – und damit einer geringeren Havarie-grosse-Summe – führten und die Ladung dadurch letztlich gerettet wurde, müssen sich die Ladungseigner an den durch die Verhandlungen entstandenen Zusatzkosten beteiligen – alles in allem 160.000$. Darunter fielen etwa die Heuer und Risikoprämien für die Crew, Nahrungsmittel und Bunker.

Das Gericht gab dem Reeder Recht. Doch die Ladungsseite, die japanische Firma Mitsui & Co., wollte sich damit nicht abfinden. Mit Erfolg, denn im Berufungsverfahren vor dem Court of Appeal kippten die Richter das Urteil, letztlich aufgrund einer anderen Lesart der Regel F in den York-Antwerp-Rules. »Das zeigt, dass eine Klärung notwendig war«, sagt Reid. Die Regel bezieht sich auf Kosten, die anstelle anderer Kosten entstanden, die wiederum unter Havarie-grosse fallen.

»Alternativer Handlungsstrang«?

Die Ladungsseite hatte jedoch mit einem »gleichen Handlungsstrang« argumentiert, sodass die Kosten nicht in die Havarie-grosse fallen sollten. »Eine Diskussion, die schon jahrelang schwelte«, so die Anwältin. In diesem Fall hieße das, die zusätzlichen Kosten seien der gleiche Handlungsstrang wie die eigentliche Lösegeldzahlung – da bei der somalischen Piraterie Verhandlungen absolut normal seien und kein Reeder sich auf die erste Forderung einlasse.

Zur Überraschung nicht Weniger folgte der Court of Appeal diesem Argument. Abgeschlossen war der Fall damit aber noch nicht, da sich nun der Reeder nicht mit dem Urteil abfinden wollte. Es ging zum letztinstanzlichen Supreme Court. Und die dortigen Richter fanden wieder einen neuen Ansatz.

Die vorgeschaltete Ausgangsfrage für alle derartigen Fälle ist die, ob die Ausgaben in juristischem Sinne »angemessen« bzw. »vernünftig« waren. So auch in diesem Fall. Am Supreme Court kam man aber zu dem Schluss, dass es dabei nicht – wie geschehen – um die 6Mio. $ Lösegeldforderung gehen sollte, sondern um die 160.000$. Die Art der Zahlung sei entscheidend. Die erste Forderung fällt unter Rule A der York-Antwerp-Rules. Das bedeute, so die Ansicht des Gerichts, dass jede weitere damit verbundene Ausgabe, ob »alternativ« oder »zusätzlich«, unter Rule F fällt. Zumindest dann, wenn der gezahlte Betrag an operativen Ausgaben angemessen war, in diesem Fall die 160.000$.

Wenn er das ist, stellt sich die Frage, ob der Betrag geringer ist als derjenige, der ohne diese Zusatzkosten angefallen wäre, also die 6Mio. $. Eine Rechnung wurde aufgemacht: 6Mio. $ minus das gezahlte Lösegeld plus die 160.000$ Extra-Kosten. Das Ergebnis von 4,5Mio. $ hätten die Eigner mehr zahlen müssen ohne die Verhandlungen und die damit verbundenen Kosten. Weil die 160.000$ weit weniger waren und als angemessen beurteilt wurden, fallen sie unter Rule F und müssen von den Beteiligten geteilt werden, so das Urteil.

Finale Entscheidung

Ein wichtiger Punkt, der Auswirkungen haben dürfte, ist nach Ansicht der Juristin Reid die Betrachtungsweise beziehungsweise Interpretation der York-Antwerp-Regel F. Die Richter am Supreme Court sagten, selbst wenn sie es nicht so läsen, müsse man nach einem alternativen Handlungsstrang schauen – »ein Fakt, der Auswirkungen haben wird, da Regel F bislang immer so interpretiert wurde«, sagt Reid –, könne der Schiffseigner Recht bekommen, da die 160.000$ als operative Kosten gezahlt wurden, für die Crew, Bunker und so weiter. Das Lösegeld waren 6Mio. $, ergo gab es in diesem Sinne einen alternativen Handlungsstrang. Das war die finale Entscheidung des Supreme Court 2017. An dieser Entscheidung – traditionell eine wichtige Rechtsquelle im englischen Recht – können sich die Juristen nun orientieren.

Das Urteil fiel zwar nicht einstimmig, aber eindeutig aus. Seitdem hat sich für die Schifffahrtsjuristen etwas geändert. Einerseits waren in der Branche viele schon überrascht, dass ein solcher Fall überhaupt bis vor das höchste englische Gericht ging. Zum anderen gibt es jetzt eine neue Interpretation der York-Antwerp-Rules. Der muss man nicht folgen, die Vertreter der Ladungseigner haben bereits verlauten lassen, dass sie durchaus Konfliktpotenzial sehen. Eine Klärung ist das Urteil jedoch allemal.

»Für Piraterie-Fälle wissen wir jetzt besser, wo wir in Bezug auf die Extra-Ausgaben stehen«, sagt Reid, die zudem etwas mehr Ausgeglichenheit ausmacht: »Jetzt geht es, vereinfacht gesagt, vor allem noch um Angemessenheit und die Verhandlungen.«

Ein Reeder wird nun ermuntert, das Lösegeld zu verhandeln. Nach alter Lesart hätte es sein können, dass er auf den dafür anfallenden Kosten sitzen bleibt, warum sollte er also verhandeln? Die Kehrseite, so meinen es Kritiker, ist: Reeder könnten die Verhandlungen nun über die Maßen in die Länge ziehen, da sie wissen, dass sie ihre Ausgaben zum Teil erstattet bekommen…

Ganz offensichtlich ein folgenschwerer Fall, den eine Gruppe somalischer Piraten da ausgelöst hat. Sie hinterlassen mit ihrer Attacke ein juristisches Erbe. »Rule F wird sich künftig vor allem um die Verhandlung drehen. Wenn der Eigner verhandelt, sind das Zusatzausgaben, die in Kauf genommen werden, um eine weit größere Ausgabe zu reduzieren. Also warum sollten sie dafür bestraft werden?«, so Reid.

Ob der Fall der »Eleni P« ähnliche Folgen für das maritime Rechtsverständnis haben wird, bleibt abzuwarten. Juristen und Sachverständige werden ihn aber sicher aufmerksam verfolgen.


Michael Meyer