Bei der Havarie verkeilte sich das Containerschiff »Ever Given« zwischen den beiden Ufern des Kanals © Maxar Technologies
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Die Havarie des Containerschiffes »Ever Given« schlägt weiter Wellen. Nicht nur, weil die sechstägige Blockade des Suezkanals für schwere Nachwehen in den Häfen sorgt. Der Unfall wirft auch eine Reihe von nautischen Fragen auf und verweist auf grundlegende Risiken

Im Nachgang zur Havarie des Containerschiffes »Ever Given« im [ds_preview]Suezkanal hatten vor allem die wirtschaftlichen Aspekte für Schlagzeilen gesorgt. Doch nicht nur das: Viele Experten diskutieren seither, was zu dem Unfall geführt haben könnte. Eines dürfte auf der Basis der bisher vorliegenden Daten klar sein: Um einen technischen Fehler wird es sich bei dem Unfall kaum gehandelt haben. Es scheint sich vielmehr um eine Folge hydrodynamischer Effekte zu handeln, die von der Schiffsführung durch nautische Maßnahmen nicht mehr in den Griff zu bekommen waren.

Natürlich wird von verschiedenen Stellen wie Suezkanalbehörde SCA, dem Flaggenstaat Panama und Vertretern der Reederei eine intensive Auswertung aller vorliegenden Daten, insbesondere des VDR, erfolgen. Es ist daher etwas gewagt, sich mit vorschnellen Analysen zu Wort zu melden. Doch wenn bereits kurz nach dem Unfall selbst von seriösen Medien unsinnige Berichte verbreitet werden, dass sich die Besatzung eines 400 m langen Containerschiffes die Wartezeit vor der Abfahrt des Konvois durch den Suezkanal damit vertrieben haben soll, »einen Penis in die Karte zu zeichnen«, sollte eine qualifizierte Bewertung durchaus erlaubt sein.

Diese basiert auf einer relativ guten Darstellung der Suezkanal-Passage der »Ever Given« durch die »Made Smart Group BV«, veröffentlicht unter www. marine-pilots.com. Selbstverständlich gilt, dass am Ende nur das offizielle Untersuchungsergebnis zeigen kann, ob die hier folgenden Mutmaßungen Bestand haben, in keiner Weise soll vorab eine Schuldzuweisung erfolgen. Bereits dieses oben beschriebene Vertreiben der »Ever Given« ohne Ankern auf der Reede beim Warten auf den Lotsen und vor dem Einreihen in die entsprechende Position des Konvoi ist ein Indiz für die Wirkung des nach einheitlichen Berichten vorherrschenden starken Südwindes von 6-7 Bft (entspricht bis zu 15 m/s bzw. 30 kn). Das Schiff musste immer wieder auf die in der Routenplanung vorgesehene Warteposition zurück manövriert werden; das sich zufällig dabei ergebende Bild ist für jeden Fachmann komplett nachvollziehbar.

Es ist auf allen Bildern deutlich zu erkennen, dass die »Ever Given« bis an das Maximum beladen war und eine gewaltige laterale Windangriffsfläche geboten hat. Insofern muss die in der HANSA 05 / 2021 aufgeworfene Infragestellung der SCA-Befahrensvorschriften bezüglich der Breite anstatt des Beladungszustandes eindeutig unterstützt werden. Gleiches gilt für die Frage der Schlepperannahmepflicht; auf beide Punkte wird später noch Bezug genommen.

Bereits die Einfahrt der »Ever Given« in das betonnte Fahrwasser vor Port Taofik ist auffällig. Obwohl das Schiff den südlichen Wind auf seinem Kurs von etwa 360° vermutlich genau von achtern hatte, ist die »Ever Given« um 05.00 UTC bereits stark nach Westen versetzt. Angesichts des zu erwartenden zunehmenden Winddrucks bis zum folgenden Kurs von 050° hätten die grünen Tonnen nahezu voraus genommen werden müssen. Die Geschwindigkeit liegt aber noch im Bereich der erlaubten ca. 9 kn. Unmittelbar nach dieser Kursänderung ist aber erkennbar, wie das Schiff vermutlich vom Wind sehr stark nach Norden versetzt wird.

Der anliegende Kompasskurs »HDG« weicht durchgehend um etwa 5° vom Kurs über Grund »CoG« ab, das heißt, das Schiff wird ohne irgendein erkennbares »Vorhalten« gegen den Wind stetig weiter nach Backbord versetzt. Im Gegen-teil: In der dargestellten ersten, bereits äußerst kritischen Situation beträgt der Kurs 045°, während das Schiff noch immer um 005° versetzt wird. Um 05.20 UTC ist dann an dieser Stelle, also weit vor dem eigentlichen Ort der späteren Havarie, das erste deutliche Absetzen des Schiffes durch den »bank effect« erkennbar.

Zu hohe Geschwindigkeit?

Es dürfte bei der Auswertung des VDR deutlich werden, dass der Rudergänger durchgängig eine starke Backbord-Ruderlage einsetzen muss, um das Schiff auf dem vorgegeben Kurs zu halten. Von der Schiffsführung wurde erkennbar die Fahrt erhöht, vermutlich um die Steuerwirkung durch eine höhere Anströmung des Ruders zu verbessern, obwohl damit eine gravierende Erhöhung der hydrodynamischen Kräfte in Kauf genommen werden muss. Bereits hier ergab sich aus meiner Sicht die Ursache aller weiteren Ereignisse: Denn es ist in der Folge nicht gelungen, die Geschwindigkeit wieder auf einen »kontrollierbaren Bereich« abzusenken.

Hier wird es bei der Auswertung des VDR interessant sein zu erfahren, wie und wann die gefährliche Annäherung an die Trassengrenze von der Schiffsführung erkannt wurde und welche Order für die Umdrehungen des Propellers und Ruderlage bzw. Kurs erteilt wurde.

Hydrodynamische Effekte

Wahrscheinlich heißt es »Eulen nach Athen tragen«, in einer Fachzeitschrift noch einmal auf die hydrodynamischen Effekte nach Bernoulli einzugehen. Trotzdem ist es für mich als Lotse am Kiel-Kanal immer wieder erstaunlich, wie wenig viele Schiffsführungen über diese in bestimmten Gewässern extrem gefährlichen Effekte wirklich wissen. Wir erleben am Kiel-Kanal nicht selten, dass ein »Absetzen« von dem OOW komplett unbemerkt bleibt.

Bank effect

Absetzen des Schiffes: Ein Teil des Wassers kann in engem Fahrwasser nicht am Rumpf abfließen, sondern wird am Bug vor dem Schiff hergeschoben. Durch den Überdruck vorn und einen Unterdruck am Heck entsteht eine achtern anziehende Kraft. Dies kann zu einer Grund-/Seitenberührung und/oder geringerer Steuerwirkung führen.

Es dürfte allgemein bekannt sein, dass die Annäherung an ein Ufer in einem »begrenzten Fahrwasser« zu dem in der Grafik dargestellten Effekt führt. Dies nennt man international »bank effect«, bei uns am Nord-Ostsee-Kanal sprechen wir allgemein vom »Absetzen«. Im Prinzip stellt sich dieser Effekt in jedem »kanalisierten« Fahrwasser ein, sobald man die Mitte der Trasse verlässt. Insofern gilt dieses nicht nur für Kanäle, sondern natürlich auch für die begrenzten Trassen in einzelnen Bereichen der ausgebauten deutschen Flussreviere. Die Wirkung und Kontrollierbarkeit des Effektes ist abhängig:

  • von der Nähe zum Ufer und der Form des Ufers, besonders bei steilen Kanalböschungen,
  • von der Wassertiefe durch den zusätzlichen »Flachwasser-Effekt« (squat),
  • von der Geschwindigkeit des Schiffes
  • und von den Manövriereigenschaften des Schiffes (z.B. mit/ohne Becker-­Ruder etc.).

Hat der Absetz-Effekt einmal gewisse Grenzen überschritten, ist er nur noch schwer kontrollier- bzw. beherrschbar. Und damit beginnt die Verdammnis der Situation: Eine geringere Geschwindigkeit würde den Effekt unmittelbar verringern, gleichzeitig bedeutet eine Reduzierung der Propellerdrehzahl bzw. -steigung wiederum eine geringere Anströmung des Ruders einhergehend mit einem entsprechenden Wirkungsverlust. Ist dann das Schiff vom einen Ufer freigekommen, kann in einem begrenzten Kanal gleich wieder der Absetzeffekt an der anderen Seite greifen – das Schiff wird wie eine Billardkugel von Bande zu Bande gedrückt (»Ping-Pong-Effekt«).

Fahrtverlauf der »Ever Given«

Nach dem oben beschriebenen ersten Absetzen der »Ever Given« an der Nordböschung des Kanals konnte das Schiff zwar zur Kanalmitte zurück gebracht werden, hatte aber inzwischen eine drastisch zu hohe Geschwindigkeit von fast 13 kn. In der Kurve ergab sich beim Eindrehen auf den folgenden langen Nordkurs um 05.25 UTC ein sehr hoher »Rate-of-Turn« (RoT) von bis zu 20°/min. Zwei Minuten später erfolgte ein weiteres Absetzen an der Backbordseite mit einem RoT von >7°/min. Auch dieses konnte nicht ausreichend kompensiert werden. Mit inzwischen bis zu 13,5 kn Geschwindigkeit war das Schiff von Kanal-km 155 bis etwa Kanal-km 153,5 mehr als 3 min lang quasi an der Steuerbordseite »gefangen«. Es stellt sich die Frage, welche Maßnahmen die Schiffsführung ergriffen hat, um in dieser relativ langen und scheinbar »kontrollierten« Phase (relativ geringer RoT) das Schiff zurück in die Fahrwassermitte zu bringen und vor allem die viel zu hohe Geschwindigkeit zu verringern.

Um 05.37 UTC setzte das Schiff dann bei Kanal-km 153 mit einem RoT von -8°/min das dritte Mal ab. Bei der hohen Geschwindigkeit dürfte angesichts von fast 16 m-Tiefgang auf maximal 24 m Wassertiefe inzwischen eine sehr starke Squat-Wirkung (Flachwassereffekt) zusätzlich dafür gesorgt haben, dass spätestens jetzt das Schiff als nicht mehr kontrollierbar angesehen werden muss.

In der Folge geriet das Schiff mit noch unveränderter Geschwindigkeit in sehr spitzem Winkel in Richtung der Backbordseite des Fahrwassers und setzte dort um 05.40 UTC nochmals mit einem sehr hohen RoT von mehr als -15°/min ab, der letztendlich zum »Verkeilen« des Rumpfes mit Bug und Heck in der Böschung führte.

Datenanalyse vs. Untersuchung

Diese grobe Analyse beruht nur auf einer begrenzt qualifizierten Datenquelle. Neben den wichtigen Audio-Aufnahmen fehlen in einer rein auf AIS-Daten basierenden Betrachtung so wichtige Daten wie Ruderlage, Maschinenorder und natürlich die Einstellung und damit Nutzung der technischen Ausrüstung. Trotzdem ist für den Verfasser klar erkennbar, dass hier nicht eine »kurze Unaufmerk-samkeit« der Schiffsführung vorgelegen haben kann, sondern die Auswertung des VDR ergeben könnte, dass die Schiffsführung (inklusive des beratenden Lotsen) in einer fast 30 min langen dramatischen Phase versucht hat, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen – wie sich gezeigt hat, vergeblich.

Kapitän und Lotse haben während der durchgeführten Manöver nicht den »Helicopter View«, wie wir alle im Nachhinein am »grünen Tisch«. Sie entscheiden in der Situation mit den zur Verfügung stehenden Informationen sowie mit den personellen und technischen Kapazitäten an Bord. Da spielt eine große Anzahl an Faktoren mit: Informationen der Verkehrszentrale (z.B. Wetterbericht, Anlaufbedingungen), kommerzieller Druck, Master-Pilot-Relationship (Informationsaustausch, Sprache, Kultur, Erfahrung, Fortbildungsstand), visuelle Möglichkeiten (z.B. Sichtwinkel von der Brücke), technischer Level der Brückensysteme, Skill-Level des Rudergängers (Kommunikation), Störgeräusche auf der Brücke, Ablenkung durch Funkverkehr, und vieles mehr …

Das alles gilt es bei einer Bewertung der Entscheidungen des Brückenteams zu bedenken. Erst wenn all diese Fragen durch eine qualifizierte Unfalluntersuchung durchleuchtet wurden, kann über fallspezifische Konsequenzen diskutiert werden. Deshalb sollen im Folgenden nur grundsätzliche Denk- und Diskussionsanstöße gegeben werden, die letztendlich auch für die deutschen Reviere relevant sein könnten.

Eingeschränkte Sicht

Für die Schiffsführungen wie auch die Lotsen ist mit der neuen Bauart der sehr großen Containerschiffe ein gewöhnungsbedürftiger Effekt entstanden. Die Brücke der Schiffe ist konstruktiv um ein Drittel der Länge deutlich weiter nach vorn verlegt. Anders lassen sich die erforderlichen Sichtwinkel bei einem voll beladenen Schiff kaum einhalten, ohne mit der Brücke eine praktikable Höhe zu überschreiten. Damit ergeben sich ganz andere Blickwinkel.

Wir kennen von den sogenannten »Vorderhukern« auf dem NOK (viele RoRo-Schiffe oder auch Kreuzfahrtschiffe) den Effekt, dass eigentlich nur ein exakt mittig sitzender Rudergänger die Lage des Schiffes wirklich beurteilen kann. Je weiter die Brücke in Richtung Bug liegt, umso schwieriger wird es, die genaue Lage des Schiffes in der Trasse wahrzunehmen. Nach den Bildern vom Beladungszustand zu urteilen, dürfte auch die Möglichkeit, den vorderen Mast als wichtige »Peilhilfe« zu nutzen, massiv eingeschränkt gewesen sein.

Hinzu kommt, dass bei dem voll beladenen Schiff auch zur Seite hin vom Brückenpult aus visuell keine Kontrolle der exakten Lage des Schiffes möglich gewesen sein dürfte. Das Foto (S. 32 oben) zeigt die Zufahrt auf die Levensauer Brücke im NOK mit einem größeren Schiff. Es dürfte erkennbar sein, dass hier eine sichere Navigation eigentlich nur mit dem Radar möglich ist. Ähnlich dürfte es sich auf der »Ever Given« im Suezkanal verhalten haben.

Solche ULCC sind daher in erster Linie »technisch« zu fahren. Die beste Hilfe, gerade bei solch besonderen Bedingungen wie am Unfalltag im Suezkanal, bietet auf Schiffen mit einer modernen integrierten Brücke der »predictor«, wodurch der Nautiker neben der Vorauslinie des Kompasskurses die tatsächliche Bewegung des Schiffes über Grund unmittelbar beobachten kann. Es erscheint aber immer noch so, dass viele Schiffsführungen dieses Tool wenig nutzen. Insofern sollten die Reedereien dieser Art von Schiffen überprüfen, ob das bisherige Training der Nautiker im Simulator im Hinblick auf Nutzung der technischen Ressourcen unter besonderen Bedingungen verbessert werden kann.

Vorhalten statt Absetzen

Wie bereits dargestellt, hätte die erste Annäherung der »Ever Given« an die Nordseite des Fahrwassers bei der Passage von Port Taofik vermutlich durch ein Vorhalten um mindestens 5° nach Steuerbord (entsprechend der Differenz von »Heading« und »CoG« in den Aufzeichnungen) verhindert werden können. Allerdings muss auch jedem Nicht-Nautiker klar sein, dass schon ein solch vermeintlich kleiner Winkel in einem begrenzten Kanal »visuell grausam« ist und nur durch Übung und ein Vertrauen auf die resultierenden Werte des »predictors« erträglich wird.

Auch die Lotsen können bei einer Ausrüstung mit einer qualifizierten »Portable Pilot Unit« (PPU) wertvolle Hilfe leisten. Der große Vorteil einer solchen PPU ist, dass diese vor Reiseantritt auf die persönlichen Bedürfnisse des Lotsen eingestellt werden kann, kompakt alle erforder­lichen Daten anzeigt, mobil ist und trotz unmittelbarem Datenzugriff via Pilot-Plug autark von den Schiffssystemen arbeitet. Die deutschen Lotsen haben mit diesem System gerade bei »Maximalschiffen« sehr gute Erfahrungen gemacht.

Qualifikation des Rudergängers

In Situationen wie bei der Passage der »Ever Given« kommt es sehr darauf an, dass am Ruder nicht »einfach nur« ein Seemann steht, der den Kurs halten kann. Ein unerfahrener Rudergänger wird immer dazu neigen, das Ruder beim Erreichen des vom Lotsen/Kapitän georderten Kurses wieder mittschiffs zu legen, setzt dann aber bereits ein »banking effect« ein, kann selbst durch ein nur kurzes Reduzieren der Ruderlage ein erneuter und für den Rudergänger völlig unerwarteter Dreheffekt resultieren. Nach meiner Einschätzung wird von den Reedereien zu wenig Wert auf eine gute Ausbildung der Besatzungsmitglieder gelegt.

Auch wir am NOK können beobachten, dass es heute oft unmöglich ist, einem Besatzungsmitglied einfach nur die Order »Kanalmitte steuern« zu geben. Seitdem vor allem kleinere Schiffe mit dem Auto-Piloten nahezu von Pier zu Pier fahren und der Kapitän das Ruder erst mit dem Beginn des eigentlichen Manövrierens selbst übernimmt, geht sogar bei den Offizieren diese uralte seemännische Basisfähigkeit verloren.

Eigentlich muss man sich fragen, warum es angesichts der extrem hohen Kosten einer Passage durch den Suezkanal dort keine professionellen Kanalsteurer wie am Nord-Ostsee-Kanal gibt. Der Sicherheitsgewinn ist sicherlich unumstritten. Ein drohendes Absetzen des Schiffes kann somit verhindert werden, bevor die Drehbewegung nicht mehr aufgefangen werden kann.

Kritiker werden zwar anmerken, dass es trotzdem im NOK zu folgenschweren Unfällen kommt. Es muss aber auch anerkannt werden, dass dort bis zu 32 m breite Schiffen im alten Kanalprofil auf 44 m Trassenbreite in sehr engen Kurven manövrieren, die »Ever Given« mit 60 m Breite dagegen auf einer 200-m-Trasse. Außerdem gibt es keinen »Einbahnverkehr« wie im Suezkanal und daher kommt es bei den zahllosen Begegnun­gen zusätzlich zum »bank effect« noch die »ship-to-ship-interaction«. Vor diesem Hintergrund wird die Einrichtung von Begegnungs­korridoren im Zuge der Fahrrinnenanpassung der Elbe umso verständlicher.

Nachholbedarf in der Ausbildung

Das Verständnis von Ursache und Wirkung hydrodynamischer Effekte ist demnach essenziell beim Manövrieren sehr großer Schiffe in begrenzten Revieren. Dies sollte auch schon in der nautischen Ausbildung zum Kapitänspatent mehr Berücksichtigung finden. Die IMO hat für ULCC entsprechende »model courses« empfohlen; trotzdem handelt es sich aber um ein nahezu alle Schiffstypen betreffendes Problem. Während der Squat-Effekt meist mit einer drastischen Fahrtreduzierung in den Griff zu bekommen ist, ist das gezielte Auffangen eines einmal einsetzenden »bank effect« ungleich schwieriger.

Nach unserer Erfahrung am Kanal ist es durchaus sinnvoll, zunächst kurzzeitig die Propellerdrehung stark zu erhöhen, um die Anströmung des Ruders zu verbessern – daraus darf dann aber keinesfalls eine Erhöhung der Geschwindigkeit resultieren. Ob ein solches stetiges Wechseln der Umdrehungen mit seinem Schiff überhaupt machbar ist, sollte ein Kapitän wissen und muss dafür trainiert werden.

Leider ist eine wirklich realitätsnahe Simulation nur an sehr wenigen nautischen Einrichtungen gegeben. Bei der mathematischen Simulation »verzeihen« nach meiner Ansicht die Anlagen meist zu viele Fehler und sind besonders bei den extrem komplexen und sich überlagernden hydrodynamischen Effekten »überfordert«. Besser geeignet scheinen hier Simulationen mit »manned models« zu sein.

Reedereien sind gefragt

Auch in den Berichten der Experten der Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (BSU) gibt es in Bezug auf die Bewertung der Hydrodynamik qualitative Unterschiede. So gibt es Untersuchungen, bei denen wegweisende externe (und damit kostspielige) Gutachten veröffentlicht wurden (siehe Bericht 45/04, Kollision zwischen »Cosco Hamburg« und »P&O Nedlloyd Finland«), andererseits aber auch Ergebnisse ohne weitere Expertise, die auf wenig Verständnis bei den Fach-leuten vor Ort stießen (siehe Bericht 523/10, Kollision zwischen »National Glory« und »Malaga«).

Reedereien sollten bestehende regionale Beschränkungen für die relevanten Reviere intern überprüfen (siehe HANSA 05/2021) und selbst den Kapitän darin bestärken, eine eigene Risikoabschätzung zu treffen. So empfiehlt unter anderem die Reederei Maersk, ab 25 kn Windvorhersage von einer Passage des Suezkanals abzusehen. Eine Regel in den Vorschriften der SCA, Schiffe breitenabhängig für eine Passage zu limitieren, erscheint dagegen wenig praxisnah. Diese Vorgabe dürfte auf der relativ statischen Berechnung der erforderlichen Verkehrsfläche bei einem bestimmten Vorhaltewinkel beruhen. Viel entscheidender ist hingegen die Windangriffsfläche in Kombination mit dem Tiefgang.

In hochwertigen Fortbildungskursen an den nautischen Simulationszentren kann den Kapitänen die nötige Kompetenz für die Ressourcen des Schiffes nach der Berechnung der Windangriffsfläche (meist unmittelbar im Ladungsrechner ablesbar) vermittelt werden. Die Weigerung eines Kapitäns, wegen der Wetterlage eine Revierfahrt anzutreten, müsste dann aber auch bei allem kommerziellen Druck respek­tiert werden.

Ähnliches gilt für die Schlepperannahmepflicht. Schiffe von der Größe der »Ever Given« benötigen einen mo-dernen »Escort-Tugs«, der auch bei der mit 9 kn relativ hohen Normal-Geschwindigkeit noch die erforderliche seitliche Kraft auf das Schiff bringen kann, um ein gefährliches Absetzen zu kompensieren. Wenn der Kapitän, wie oben dargestellt, die Windangriffsfläche mit den daraus resultierenden Kräften berechnet, dann weiß er auch, wie viel Tonnen Pfahlzug ein Schlepper beim »indirect towing« erzeugen können muss. Auch dies lässt sich heute gezielt üben.

Eine Schlepperannahmepflicht in den Verordnungen zu definieren, ist aufgrund der vielen verschiedenen Faktoren eher kritisch zu sehen. Es wäre sinnvoller, wenn der Kapitän gemeinsam mit seinem revierkundigen Berater zu der Entschei­dung kommt, ob ein Schlepper zur Assistenz genommen werden sollte oder nicht. Auch hier muss dann aber gelten, dass solche seemännischen Entscheidungen nicht von kaufmännischer Seite in Frage gestellt werden dürften.

Die Rolle des Lotsen

Ein Inspektor der Firma »Star Cruises« sagte in einem Vortrag sehr richtig: »To hand over a vessel with a value of some billion dollar to a complete unknown person in just some minutes is one of the most challanging situations for a captain!« Es steht hoffentlich außer Frage, dass die Annahme eines beratenden Seelotsen in allen Revieren grundsätzlich einen deutlichen Sicherheitsgewinn und, gerade hier bei uns, die wichtigste Säule des »Verkehrssicherungssystems Deutsche Küste« darstellt.

Es wird hoffentlich schnellstmöglich eine Analyse der Vorgänge auf der Brücke der »Ever Given« geben und es wird interessant sein zu erfahren, welche Rolle die ägyptischen Berater und welche die Schiffsführung gespielt haben. Eine Vorabeinschätzung dieses offensichtlich entschei­denden Faktors »Mensch« soll hier nicht erfolgen. Möglicherweise aber muss dieser Bereich noch einmal gezielt betrachtet werden.

Autor: Kapt. Gerald Immens Vorstand Nautischer Verein zu Kiel Lotse, Consultant