Alexander Dimitrevich – Clinical Psychologist Coordinator Eastern Europe, Mental Health Support Solutions © Mental Health Support Solutions
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Seeleute brauchen mehr psychologische Unterstützung, sowohl als Vorbereitung für potenzielle Piraten-Attacken bevor sie an Bord gehen, als auch nach einer Entführung, meint Alexander Dimitrevich, Psychologe beim Dienstleister Mental Health Support Solutions (MHSS).[ds_preview]

Wie gravierend sind die psychologischen Folgen von Piratenangriffen vor Westafrika auf Seeleute?
Dimitrevich: Wenn Reedereien oder Seeleute selbst nicht angemessen auf ihren Zustand achten, kann dies zu Anpassungsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen Arten von psychischen Problemen führen. Eine Studie, die wir mit Ocean Beyond Piracy durchgeführt haben, hat ergeben, dass jede vierte Geisel unter ziemlich ernsten Nachwirkungen leidet.

Gibt es einen Unterschied zur Situation vor Somalia beziehungsweise im Golf von Aden?
Dimitrevich: Bei den westafrikanischen Piraten handelt es sich oft um gut ausgebildete Kämpfer, die tagsüber als private Sicherheitsleute oder sogar als Soldaten arbeiten und nachts Schiffe angreifen. An Bord gehen sie sehr aggressiv vor. Nachdem sie ihre Geiseln in geheime Lager auf kleinen, mit Mangrovenwäldern bewachsenen Inseln irgendwo im Delta gebracht haben, werden die Seeleute relativ gesehen nicht allzu schlecht behandelt. Sie bekommen Essen, Wasser, Medikamente. Am meisten gefährdet sind sie bei einem Rettungsversuch durch bewaffnete Kräfte oder Streitereien zwischen Piraten. Nach der Freilassung müssen sie durch abgelegene Gegenden reisen und fürchten, erneut entführt zu werden.

Wie viele Seeleute geben ihren Beruf nach einer solchen Erfahrung auf?
Dimitrevich: Die Untersuchung, die wir 2015 mit OBP und Partnern durchgeführt haben, ergab, dass etwa 4 % der Überlebenden den Beruf des Seefahrers aufgegeben haben, aber wir müssen berücksichtigen, dass diese Menschen mutig genug waren, offen darüber zu sprechen. Über die Dunkelziffer können wir nur Vermutungen anstellen.

Müssen Reedereien mehr tun, um ihre Seeleute zu unterstützen?
Dimitrevich: Viele Studien zeigen, dass eine gute Ausbildung und offene Diskussionen über Notfallverfahren dazu beitragen können, den Stress eines Menschen zu verringern. Seeleute fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, dass ihr Unternehmen alles tun wird, um ihre Freilassung zu erreichen. Außerdem hat die maritime Industrie »Best Management Practices« eingeführt, die ebenfalls dazu beitragen, dass sich die Besatzungsmitglieder wohler fühlen. Untersuchungen mit Seeleuten zeigen, dass solche traumatischen Ereignisse zu vermindertem sozialen und emotionalen Wohlbefinden und Depressionen führen können. Die maritime Industrie sollte Systeme entwickeln, um die Auswirkungen von traumatischem Stress zu mindern. Die gute Nachricht ist, dass solche Systeme leicht zu entwickeln sind. Es gibt eine große Menge an Literatur aus anderen Bereichen, darüber, wie Stressoren abgemildert werden können.

Was können Sie tun, um betroffene Seeleute zu unterstützen?
Dimitrevich: Aufbauend auf bewährten Praktiken schlagen wir einen »Vorher-, Während- und Nachher«-Ansatz vor, bei dem die Besatzungsmitglieder eine Schulung zu traumatischem Stress und bewährten Praktiken für die psychische Gesundheit erhalten und gleichzeitig Protokolle für stressige Ereignisse lernen. Forschungsergebnisse aus anderen Bereichen deuten darauf hin, dass ein solches Modell, systematisch eingesetzt, die Widerstandsfähigkeit der Seeleute verbessert. In der »Nach-Phase« führen wir spezielle Interviews durch, um das Ausmaß des Traumas zu beurteilen. Je nach Situation können wir andere Fachleute hinzuziehen oder Therapiesitzungen anbieten. Wir setzen die Betreuung auch nach dem vermeintlichen Ende der Krise fort: Bei einigen Überlebenden können die Nachwirkungen länger andauern als bei anderen.

Interview: Michael Meyer