Militärische Konflikte und Unruhen gefährden immer wieder den freien Seehandel. Dazu kommen geopolitische Ambitionen. Vor allem China und Russland erheben Anspruch auf strategisch wichtige Regionen und fordern die USA als führende Seemacht heraus
Die See ist die Straße des Welthandels. Die freie Nutzung der Seewege und der gesicherte Zuga[ds_preview]ng zu den Meeren gilt für viele Länder als lebenswichtig. Doch werden viele Regionen zum Schauplatz eines geopolitischen Kräftemessens.
Während des zwei Wochen dauernden Nato-Manövers »Sea Breeze«, das 30 Staaten unter Führung der USA gemeinsam mit der Ukraine kürzlich im Schwarzen Meer abhielten, starteten russische Kampflugzeuge wiederholt Scheinangriffe auf die niederländische Fregatte »HNLMS Evertsen« und den britischen Zerstörer »HMS Defender«.
Während die Nato im Schwarzen Meer demonstrativ Rückendeckung für die Ukraine zeigte, fühlte sich Russland bis aufs Blut gereizt. Denn das Manövergebiet befand sich im Südosten der Halbinsel Krim, die von Russland annektiert wurde. Seither schwelt ein Krieg zwischen prorussischen »Rebellen« und den von Kiew kommandierten Truppen. Immer wieder erschwert Russland die Schifffahrt in der Straße von Kertsch, der Verbindung zu den für die Ukraine wichtigen Häfen im Asowschen Meer. Doch nicht nur der russisch-ukrainische Konflikt birgt potenzielle Risiken für die internationale Seefahrt, die immerhin 90 % aller gehandelten Güter weltweit bewegt.
Wie schnell und gravierend Störungen an neuralgischen Punkten die globalen Wirtschaftskreisläufe beeinträchtigen, haben nicht zuletzt die Blockade des Suezkanals durch das havarierte Containerschiff »Ever Given« oder der coronabedingte Ausfall des chinesischen Hafens Yantian gezeigt. Zu den »Aorten« des Welthandels zählt ebenso die Straße von Malakka oder die Straße von Hormuz am Ausgang des Persischen Golfs. Durch dieses Nadelöhr geht ein Viertel der globalen Öltransporte.
Eine Blockade oder Schließung auch nur eines dieser maritimen Flaschenhälse bleibt eine reale Gefahr. Nur wenige Seeminen reichen aus, um solche geo-ökonomisch wichtigen Meerengen vollkommen abzuriegeln. Auch Terroranschläge auf Schiffe, wie wiederholt im Golf oder zuletzt vor der israelischen Mittelmeerküste, können jederzeit die Schifffahrt stark behindern oder stoppen.
Der Schwerpunkt der Weltpolitik verlagert sich vom Abendland zurück nach Eurasien und vom atlantischen in den pazifischen Raum. Dabei spielt China die zentrale Rolle, nachdem sich die Volksrepublik in nur 40 Jahren von einem der ärmsten Entwicklungsländer zur größten Handelsnation und, nach Kaufkraft gemessen, bereits zur größten Volkswirtschaft entwickelt hat, kurz: zu einer Supermacht, die nur noch von den USA übertroffen wird.
Unüberhörbar meldet Peking wirtschaftliche, geopolitische und militärische Ansprüche an. China baut seine Handelsflotte aus, um seine Versorgungsrouten sowie den steigenden Rohstoff- und Energiebedarf zu sichern. Dabei stützt sich China vor allem auf Staaten, die sich vom Westen politisch klar abgrenzen wie den Iran, Sudan, Angola oder Venezuela. China hat allerdings ein Problem: Die meisten Importe über See müssen mindestens eine entscheidende Engstelle passieren: die Straße von Malakka. Und diese wird, wie große Teile dieser Region, durch die USA mit Hilfe diverser Militärstützpunkte und durch Marinepräsenz »kontrolliert«.
Noch, könnte man sagen. Denn China rüstet die Volksbefreiungsarmee mit einem Anteil von 13 % an den globalen Rüstungsausgaben gewaltig auf, auch die Marine. Sie hält dem Vergleich mit der Schlagkraft der US-Flugzeugträger-Verbände zwar noch nicht stand, stellt aber zahlenmäßig mit rund 350 Kriegsschiffen und U-Booten bereits die größte Flotte der Welt. In einigen Bereichen, etwa bei Lenkwaffenzerstörern, hat China nicht nur mit der US Navy gleich-, sondern ist sogar vorbeigezogen. Der dritte Flugzeugträger unter dem Projektnamen »003« ist gerade bei der Jiangnan-Werft in Schanghai im Bau.
Chinas wachsende Ansprüche
Mit Sorge beobachten Chinas Nachbarn das zunehmend aggressive Auftreten der Volksrepublik im asiatisch-pazifischen Raum. Im Südchinesischen Meer ignoriert Peking seit Jahren das Urteil eines internationalen Schiedsgerichts, erhebt weiter Anspruch auf fast das gesamte Meeresgebiet fast bis zur Straße von Malakka und hat Atolle und Inseln zu Militärbasen ausgebaut. Bei dem Konflikt geht es um Fischgründe, Öl- und Gasreserven – und die Kontrolle einer der global bedeutendsten Schifffahrtsrouten.
Ein Drittel des Welthandels mit jährlich 60.000 Schiffen wird über das Südchinesische Meer abgewickelt – der Streit berührt also auch Europa ganz erheblich. Bislang wurden dieses Seegebiet von der US-Marine mit der auf Japan stationierten 7. US-Flotte beherrscht, nun aber baut Peking zunehmend ein Gegengewicht auf. Denn die Versorgung über den Seeweg ist eine Achillesferse des Landes. Dazu kommt als Teil des Konflikts Taiwan, einerseits als Verbündeter des Westens und andererseits, nach dem Selbstverständnis der KP Chinas, bis heute ein abtrünniger Teil des Landes, der zurückgeholt werden muss.
Chinas bislang einzige ausländischer Militärstützpunkt befindet sich in Djibouti am Horn von Afrika. Allerdings werden etliche wichtige Handelshäfen wie Piräus im Mittelmeer inzwischen von chinesischen Eignern kontrolliert, auch sie könnten im Krisenfall militärisch genutzt werden.
Bislang hat Peking mehr als 1 Bio. $ in das »One-Belt-One-Road«-Programm in mehr als 70 Ländern investiert, auch in Deutschland. Neben Logistikzentren und interkontinentale Bahnverbindungen spielt auch die »maritime Seidenstraße« eine wichtige Rolle.
Der immanente Konflikt zwischen China und den USA, der nicht militärisch, aber sehr wohl über Handelsbeziehungen und -beschränkungen ausgetragen wird, ist bei weitem nicht die einzige Bedrohung für das geopolitische Machtgefüge oder den ungestörten Welthandel.
Persischer Golf
Dazu kommt eine neue »Völkerwanderung« apokalyptischen Ausmaßes, die sich aus den Kriegen, Konflikten und Auseinandersetzungen in der Levante, im Mittleren Osten und im Norden Afrikas, aber auch aus der Armut und Perspektivlosigkeit des gesamten afrikanischen Kontinents speist. Nie war spürbarer, dass Schockwellen, die durch wirtschaftliche, finanzielle, politische oder sonstige Ursachen ausgelöst werden, von der Peripherie bis ins Zentrum Europas wirken und neue Krisen, Konflikte oder Unruhen auslösen können.
Die Straße von Hormuz, die am Ausgang des Persischen Golfs liegt, ist von großer Bedeutung. Ein Viertel der globalen Ölexporte werden durch sie transportiert, und von diesem Öl sind viele Staaten abhängig. Zur Sicherung der internationalen Energieversorgung ist die 5. US-Flotte in Bahrain stationiert. Eine »CSG Carrier Strike Group« besteht aus einem Flugzeugträger mit Dutzenden Kampfjets, Jagdflugzeugen und Hubschraubern, der von zwei Lenkwaffenkreuzern, zwei oder drei Zerstörern und zwei U-Booten begleitet wird.
Der Persische Golf ist zwar ein Zentrum des globalen Energiesystems, aber die Islamische Republik wird von der Supermacht USA auch nach der Wahl des Hardliners Ebrahim Raisi eher als ein gefährlicher Störenfried denn als eine wirkliche militärische Bedrohung gesehen. Gleichwohl liegen permanente Spannungen über dieser Region, die nicht nur von der Erzfeindschaft zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, sondern auch vom Konfliktherd Naher Osten und den religiös-politischen Auseinandersetzungen mit Israel immer wieder geschürt werden. Zudem tobt am Ausgang der Meeresstraße, im Jemen, seit Jahren ein Bürgerkrieg, in den eine von Saudi-Arabien geführte Allianz eingetreten ist, um gegen die Huthi-Rebellen zu kämpfen.
Beide Konflikte haben das Potenzial, die Schifffahrt empfindlich zu stören, wie einige gravierende Vorfälle bereits gezeigt haben. Erinnert sei an die Festsetzung des Tankers »Stena Impero« durch iranische Revolutionsgarden im Herbst 2019, der Beschuss von Schiffen oder Attacken mit Seeminen. Zuletzt war ein Containerschiff offenbar von einer Rakete getroffen worden. Die Lage ist brisant, eine Eskalation in der Meerenge könnte jederzeit in eine Wirtschaftskrise führen.
Syrien
In Syrien ist eine friedliche Lösung nach zehn Jahren Bürgerkrieg unter Beteiligung zahlreicher Drittstaaten nicht in Sicht. Mehr als 400.000 Menschen sind bereits ums Leben gekommen, mehr als 12 Mio. Menschen haben ihr Zuhause verloren. Das kurdische Gebiet im Norden kontrolliert die Türkei, Russland unterhält als einer der wenigen Verbündeten von Präsident Assad eine eigene Marinebasis im syrischen Tartus und kämpft mit der eigene Luftwaffe, Militärberatern und Tausenden von »Freiwilligen« an der Seite der Regierungstruppen. Es geht Putin wie auch der Türkei um den Einfluss im Nahen Osten.
Arktis
Andere Ambitionen meldet der Kreml im hohen Norden an. Die Arktis birgt Expertenschätzungen zufolge mehr als ein Viertel der weltweiten Öl- und Gas-Reserven. Der Kampf um Einfluss und Zugangsrechte hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschärft. Um die reich gefüllte Naturschatzkammer buhlen zahlreiche Staaten. Die sogenannten »Arctic Five« stehen bereits im Blickfeld der maritimen Sicherheitspolitik. Gemeint sind die fünf Staaten, die direkt an das Nordpolarmeer grenzen, und das sind: Norwegen, Russland, USA (via Alaska), Kanada und Dänemark (via Grönland). Diese fünf Staaten beanspruchen jeweils das Gebiet ihrer Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die sich bis 200 sm entfernt von der Küste und zum Teil bis nahe an den Nordpol erstreckt.
Russland lässt keine Zweifel an den eigenen Ansprüchen und baut neben kräftiger Symbolik wie dem Hissen der Staatsflagge am Meeresgrund die Militärpräsenz im Nordmeer aus. Dazu zählen Stützpunkte im Eis ebenso wie Pläne für eine Flotte eisgängiger, auch militärisch nutzbarer Schiffe.
Wettrüsten auf dem Meer
Angesichts verstärkter geopolitischer Rivalitäten und den vielen Konflikten erreichen die Militärbudgets neue Rekordwerte. Man könnte meinen, dass wir am Anfang eines neuen Wettrüstens stehen.
Investiert wird vor allem in neue Technologien, sei es Künstliche Intelligenz (KI), das automatisierte Schlachtfeld, unbemannte Drohnen, militärische Raumfahrttechnik sowie in die Modernisierung von Atomwaffen einschließlich ihren Trägersystemen.
Die weltweiten Militärausgaben sind trotz Pandemie um 2,6 % gestiegen. Der Löwenanteil der weltweiten Militärausgaben 2020 entfiel auf die USA: Sie gaben knapp 780 Mrd. $ für Verteidigung aus, waren damit für 39 % der weltweiten Militärausgaben verantwortlich und rangieren unangefochten auf Platz 1. Sie gaben 2020 fast dreimal so viel Geld für ihr Militär aus wie ihre vermeintlichen Rivalen China und Russland zusammen.
Die Bedeutung einer Seemacht steht und fällt mit der Präsenz an den neuralgischen Punkten entlang der Hauptschifffahrtsrouten. Das US-Militär kann durch seine Flottenverbände und die über 800 auf mehr als 170 Länder verteilten Militärstützpunkte viele Gebiete kontrollieren. Ein starke Flotte bleibt ein Machtinstrument von geostrategischer Bedeutung.
Das Pentagon hat seine strategische Planung neu justiert. Das jüngste Strategiepapier TRADOC 525-3-1 ist überschrieben mit »Win in a Complex World, 2020–2040«. Darin geht es um nichts weniger als die amerikanische »Full Spectrum Dominance« – zu Land, zu Wasser, in der Luft, im Cyberspace und im Weltall. Als wichtigste Gegner werden in dem Papier die eurasischen Konkurrenzmächte China und Russland genannt.
Bei ihrem gerade in Brüssel stattgefundenen Gipfel haben die NATO-Mitgliedstaaten neben Russland als ihrem traditionellen Counterpart erstmals auch China als »systemische Herausforderung« und strategischen Rivalen entdeckt, der »mit Blick auf die Verteidigung der Sicherheitsinteressen des Bündnisses« in neue strategische Ansätze einbezogen werden soll. Peking sprach umgehend von einer »Mentalität des Kalten Krieges«.
Brennpunkt Indo-Pazifik
Auch die EU-Außenminister haben im vergangenen April eine Indo-Pazifik-Strategie für den Handel abgesegnet, beim diesjährigen G7-Treffen im britischen Carbis Bay, wohlgemerkt ohne China und Russland, stand China ganz oben auf der Tagesordnung. Als Konter zur chinesischen »Neuen Seidenstraße« wurde ein milliardenschwerer Infrastrukturplan beschlossen.
Trotz aller Annäherung der Post-Trump-Ära haben Europa und die USA in China allerdings konträre Interessen. Die USA haben ein riesiges Handelsbilanzdefizit, sie wollen Peking daher in die Schranken weisen. Europa macht hingegen beste Geschäfte mit China und Emmanuel Macron, der französische Präsident, mahnte jüngst, »dass wir die Ziele nicht vermengen sollten. Die Nato ist eine militärische Organisation. Der Inhalt unserer Beziehung zu China ist nicht nur militärisch.«
Bei der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hörte sich das ganz ähnlich an: China sei ein Rivale in vielen Fragen, aber gleichzeitig auch ein Partner für viele Fragen. Deutschland als drittstärkste Handelsnation und Europa sind angesichts des »One Belt, One-Road«-Programms aufgerufen, politisch wachsam zu sein.
Co-Autor Ludolf Baron von Löwenstern ist Kapitän zur See d.R., Chairman des European Strategic Institute sowie Experte für geostrategische und geopolitische Fragen am Deutschen Maritimen Institut (DMI)