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Hunderte von Schiffswracks mit gefährlicher Munition aus zwei Weltkriegen rotten auf dem Meeresgrund vor sich hin. Vor 75 Jahren wurden die letzten dieser »Giftschiffe« versenkt. Politik und Gesellschaft beschäftigen sie bis heute. Ein Überblick.

Zwei Schornsteine, zwei Masten, Platz für Fracht und rund 2.400 Menschen: Die »Monte Pascoal« der Reederei Hamburg Süd war ein elegantes und solides Schiff. »Leinen los, Kurs La Plata«, hatte der Kapitän zur Jungfernreise am 26. Januar 1931 im Heimathafen Hamburg angeordnet.[ds_preview]

Danach steuerte der bei der Hamburger Traditionswerft Blohm & Voss am 17. September 1930 vom Stapel gelaufene Passagier- und Frachtdampfer Häfen im Liniendienst zwischen der Hansestadt und an der Ostküste Südamerikas an. Die über 150 m lange »Monte Pascoal« schipperte auch ins Mittelmeer und nach Norwegen. Ironie des Schicksals: Vor der Küste im östlichen Skagerrak endete am letzten Tag des Jahres 1946 auch die letzte Fahrt. Die Briten versenkten den stolzen Ozeanliner als schnöde Kriegsbeute mit Gasmunition an Bord. Seitdem liegt das Schiff in der Tiefe auf Position 58° 07′ N 10° 47′ E und gibt tödlichen Altlasten unter Wasser ein Gesicht.

680 Wracks allein in der Nordsee

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»Monte Pascoal« liegt beladen mit Giftgasmunition im Skagerrak (© Blohm+Voss)

Denn wie die »Monte Pascoal« rotten hunderte von Schiffswracks mit gefährlicher Munition aus zwei Weltkriegen auf dem Meeresgrund in deutschen Gewässern vor sich hin. Allein in der Nordsee sollen mindestens 680 dieser tickenden Zeitbomben liegen, schätzen Experten des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) in Bremerhaven. Die Bergung würde Milliarden kosten. Insgesamt wird das brisante Kriegserbe auf ein Volumen von bis zu 1,63 Millionen Tonnen beziffert. 300.000 Tonnen davon sollen chemische Kampfstoffe sein. In der Ostsee werden mindestens 300.000 Tonnen konventionelle und mindestens 50.000 t chemische Kampfstoffe vermutet. Von den 680 Schiffswracks liegen laut dem DSM etwa 240 in dänischen, rund 160 in norwegischen, mindestens 120 in deutschen, mindestens 100 in belgischen und mindestens 60 in niederländischen Gewässern.

Ein Arsenal des Schreckens. Überall Rostfraß. Allein im Skagerrak vergammeln tausende Fässer mit Giftgas. Dabei treten auch Lost und Tabun aus. Lost, benannt nach den Herstellern Lommel und Steinkopff, ist ein Senfgas. Unter der Bezeichnung Gelbkreuz wurde der Kampfstoff (Dichlordiäthylsulfid) im 1. Weltkrieg verwendet. Das starke Zellgift gilt als eines der ersten zytostatischen Mittel. Es hemmt die Kernteilung und Zellvermehrung. Augen und Atmungsorgane werden besonders angegriffen. Auf der Haut bildet es Blasen und schwer heilende Wunden. Das im 2. Weltkrieg produzierte, aber nicht eingesetzte Tabun ist ein Nervengas (Phosphorsäureester). Die toxischen Substanzen treten aus und vermischen sich mit Seewasser. Die Strömung treibt die Brühe auseinander. Fische und Muscheln sind schon verseucht worden.

Neue Untersuchung – Gefahr für Menschen

Die rasant fortgeschrittene Korrosion alter Munitionsbehälter wie Bomben und Granaten bedroht das marine Ökosystem und die Menschen. Wie schlimm die Schadstoffbelastung in Meeresorganismen durch konventionelle Munition ist, erforscht das Institut für Toxikologie und Pharmakologie für Naturwissenschaftler des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel. Auftraggeber ist das Umweltbundesamt. Dabei steht auch die geographische Verbreitung im Focus.

Immer wieder kommt Gift hoch. Zum Beispiel bei Usedom. Kleine gelbbraune Klumpen schwappten mit Sand vermischt ans Ufer. Urlauber hielten am Strand angespülte Phosphorbrocken irrtümlich für Bernstein und erlitten schwere Verbrennungen durch die chemischen Kampfstoffe.

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Auch Torpedoboot T-63 und Kriegssperrbrecher 13 (SB 13) wurden versenkt (© US Navy)

Meeresbiologe und Umweltgutachter Stefan Nehring aus Koblenz bilanziert: »Insgesamt wurden seit Ende des 2. Weltkrieges bis heute hunderte Strandbesucher auf Usedom durch Weißen Phosphor verletzt.« Im August 2011, im April 2012 und im April/Mai 2013 habe es mindestens sieben schwer verletzte Strandbesucher durch Weißen Phosphor aus Weltkriegsbrandbomben gegeben, so der geprüfte Forschungstaucher.

Darüber hinaus sind Hinweise auf Todesfälle bekannt. Das genaue Ausmaß durch Phosphor an den Usedomer Stränden ist jedoch ungeklärt. In einem internen Schriftsatz des Munitionsbergungsdienstes der DDR aus dem Jahr 1982 steht, dass »Phosphorfunde an den Stränden in der Vergangenheit wiederholt zu schweren Unfällen mit teilweise tödlichem Ausgang führten.« Weitere Details wurden aber nicht angegeben, sagt Nehring.

Auch Fischer verletzten sich. Der Saßnitzer Kutter »Dornhai« etwa musste in Eilfahrt den Hafen Neksö auf Bornholm ansteuern, nachdem zwei Besatzungsmitglieder sich bei der Berührung einer Giftgranate im Fangnetz Hals und Hände verätzt hatten. Das war Anfang Juli 1991.

Doch noch Bergung durch Anrainer?

Auch das beängstigende Giftproblem ist seit Jahrzehnten bekannt. Doch die Gefahr wurde zu lange ignoriert oder von Behörden verharmlost. Aber es gibt noch Hoffnung auf Bergung und Entsorgung von Munitionsresten durch grenzüberschreitende Kooperationen der betroffenen Nordseeanrainer Belgien, Dänemark, Deutschland, Niederlande und Norwegen unter anderem mit dem europäischen »North Sea Wrecks«-Projekt. Es beschäftigt sich seit 2018 umfassend mit der tödlichen Gefahr aus der Tiefe.

Das Gemeinschaftsvorhaben wird mit mehr als 4 Mio. € gefördert. »Die Forschungserkenntnisse sollen eine konkrete Gefahrenbewertung bestimmter Meeresbereiche ermöglichen«, sagt Unterwasserarchäologe Philipp Grassel vom Deutschen Schifffahrtsmuseum. Erste Ergebnisse zeigt die mobile Wanderausstellung »Toxic Legacies of War – North Sea Wrecks«.

Es fehlen aber weiterhin viele detaillierte Daten für weiterführende Recherchen. So sind weder Ladungsmengen in Wracks bekannt, noch alle genauen Positionen auf dem Meeresgrund. Zum Teil unterliegen exakte Angaben auch der Geheimhaltung. Das erscheint allerdings angesichts der sich zuspitzenden Problematik längst als unverhältnismäßig. Zumal sich die NATO-Partner gemeinsam mit Schweden und Finnland regelmäßig über das Baltic Ordnance Safety Board über aktuelle Funde und Entwicklungen austauschen.

Im Laufe der Geschichte ist wohl nicht alles vollständig und richtig dokumentiert worden. So handelt es sich beispielsweise bei den Munitionsaltlasten nicht nur um gezielt verklappte Kampfmittel, sondern auch um eine Vielzahl an abgeworfenen Blindgängern oder um Seeminen, heißt es in einem Antrag der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD zum »Verantwortungsbewussten Umgang mit Kampfmitteln in Nord- und Ostsee«.

Transparenz über Versenkungsgebiete

In der Begründung der Drucksache 19/29283 vom 4. Mai 2021 wird unter anderem festgestellt: »Die Gefahren durch die Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee können durch geeignete Maßnahmen deutlich reduziert werden«. Wissenschaftliche Risikoanalysen könnten die Objekte mit dem größten Gefahrenpotential ausmachen und durch deren Entsorgung die Gefahren für Mensch und Umwelt bereits signifikant verringern.« Die Bergung von Munitionsaltlasten sei sicherheitsrelevant, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass »Extremisten dieser habhaft werden«.

Schwierig werde es vor allem dort, wo aufgrund mangelnder Transparenz bei der internationalen Zusammenarbeit mögliche Versenkungsgebiete geheim gehalten werden. Die historischen Verantwortlichkeiten seien vielfältig und nicht allein auf deutscher Seite zu suchen, mahnen die Unterzeichner der Drucksache Ralph Brinkhaus, Alexander Dobrindt und Rolf Mützenich.

Nach Einschätzung der Politiker wurden seit 1870 von unterschiedlichen Staaten und Kriegsteilnehmern Kampfmittel in der Nord- und Ostsee verklappt. Hinzu kommen die in versenkten Wracks verbliebenen Munitionsbestände. Viele Objekte seien in jüngerer Zeit detektiert und katalogisiert worden, andere wiederum seien in historischen Archiven gut dokumentiert.

Einer der größten und gefährlichsten Schrotthaufen unter Wasser türmt sich in etwa 700 m Tiefe vor der norwegischen Küste. Nur rund 35 sm südlich der Hafenstadt Arendal entfernt. Die Menschen an der Küste haben Angst. Denn im Schlick liegen mindestens 25 deutsche Wracks mit hochbrisanter Fracht. Gleich nach Kriegsende sind deutsche Schiffe mit Giftgas beladen worden. Sie verschwanden bei Nacht und Nebel und wurden auf hoher See versenkt. Die meisten in Nord- und Ostsee. Einige sackten auch westlich von Irland und in der Biskaya auf den Meeresboden.

Um welche Schiffe handelt es sich?

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Ein deutsches Torpedoboot (T 21) auf dem Weg zur Versenkung 1946 (© US Navy)

In den vergangenen Jahren ist über die Zeitbomben in Nord- und Ostsee immer wieder berichtet worden. Aber mit welchen Schiffen die Versenkungen stattfanden, wurde kaum oder gar nicht behandelt. Dabei gab es mindestens 38 deutsche Giftfrachter, die mit Gasmunition beladen von Briten und Amerikanern nach Ende des 2. Weltkriegs bis 1948 versenkt worden sind.

  • Die erste Aktion begann im September 1945. Dafür wurden mehrere ausgeschlachtete Dampfer mit Gasgranaten beladen und später von britischen Marineschiffen und beschlagnahmten Hochseeschleppern von Bremerhaven, Emden, Flensburg und Lübeck in Konvois weggezogen. Darunter waren die »Duburg«, die »Patagonia«, die »Pillau«, die »Louise Schröder« und die »Triton«. Allein die »Patagonia« hatte 8.000 t Gasgranaten an Bord. Am 4. Oktober 1945 wurden im Skagerrak dann Seeventile aufgedreht oder Rümpfe untergangsreif gesprengt. Bei der Versenkung des Stückgutfrachters »Patagonia« auf Position 58°15′ 0″ N / 9°35′ 0″ O musste noch mit Artilleriefeuer nachgeholfen werden.
  • 13 Tage danach wurden weitere deutsche Schiffe auf Grund geschickt. Am 17. Oktober 1945 sanken »Balkan«, »Drau«, die »Emmy Friedrich«, die im Konvoi aus Flensburg verschleppte »Erika Schünemann« (bei Arendal), die »Oderstrom«, die »Olga Siemers« und die »Trude Schünemann« im Skagerrak.
  • Am 30. Oktober 1945 setzten die Briten nordwestlich von Irland die »Wairuna« mit chemischer Munition an Bord 2.500 m tief auf Grund. Der 1914 bei der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft als »Schneefels« entstandene Frachter liegt auf Position 55°30N – 011°00W.
  • Knapp drei Wochen später, am 17. November 1945, wurden die »Edith Howaldt«, die »Jantje Fritzen«, die »Taglia«, die »Taurus«, die »Theda Fritzen« und die »Sesostrisq versenkt. Weiter ging’s am 16. März 1946 mit der »Falkenfels« und der »Fechenheim« vor Arendal, der »Karl Leonhardt« im 4. Konvoi ab Emden, der »Lotte« und der »Hugo Oldendorff« im 4. Konvoi ab Lübeck.
  • Die nächsten Versenkungen: Der ehemalige Sperrbrecher »Eider« am 17. April 1946, »Dessau« am 17. Mai 1946 in der Nordsee, »H.C.Horn« am 26. Mai 1946, vor Arendal, »Gertrud Fritzen« und »Freiburg« am 13. Juli 1946, »Rhön« am 8. September 1946 vor Arendal, »Ludwigshafen« am 12. Oktober 1946 sowie am 31. Dezember 1946 die »Monte Pascoal« und die mit 1.400 t Gasmunition beladene »Schwabenland« im Skagerrak.
  • Am 2. Februar 1947 wurde in der Biskaya die »Dora Oldendorff« mit 2.507 t Gasmunition auf Position 47°40N – 09°22W versenkt. Besonders bemerkenswert: Am gleichen Tag endete die mit Gasmunition beladene »Herbert Norkus« in unfertigem Zustand im Skagerrak. Das für die deutsche Kriegsmarine bestimmte Segelschulschiff ist am 17. November 1939 bei Blohm & Voss wegen Räumung der Helgen für U-Bootbauten mit einem Notstapellauf zu Wasser gelassen worden.
  • Seit dem 27. Juli 1947 liegt die mit Gasmunition versenkte »Empire Lark« nordwestlich von Irland in über 770 m Tiefe auf Position 47°55N – 08°25W. Der von der britischen Kriegsmarine übernommene Dampfer war 1921 bei der Deutschen Werft A.G. in Kiel als »Martha Hemsoth« vom Stapel gelaufen.
  • In der Biskaya südwestlich der französischen Hafenstadt Brest endete am 3. November 1947 auch die 1895 bei der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft entstandene »Gutrune«. Der Frachter hieß zuletzt »Margo« und gehörte dem britischen Kriegsministerium. Das Wrack liegt mit 1.259 t Gasmunition auf Position 47°36N – 09°31W in fast 3.000 m Tiefe.
  • 1948 wurden noch vier deutsche Schiffe versenkt: Den Anfang machte die 1915 gebaute »Harm Fritzen« am 1. März 1948 mit 7.854 t Gasmunition an Bord im Skagerrak, danach folgte in der Nordsee das Ende des 1939 bei Lindenau in Memel gebauten und 1946 durch einen Brand in Cuxhaven beschädigten Turbinenschiffs »Helgoland« mit einer Ladung Gasmunition und Sprengstoff an Bord. Im Skagerrak schafften die Alliierten am 27. Juli 1948 auch die bei Rickmers in Bremerhaven gebaute »Philipp Heineken« mit Gasmunition weg. Das Schiff liegt knapp 350 m tief. Am 22. August 1948 wurde dann in der Biskaya die »Hagen« mit 9.853 t Gasmunition 4.100 m tief auf den Meeresgrund geschickt. Der Frachter war 1921 bei der Hamburger Vulkan Werft vom Stapel gelaufen.
  • Und am 20. Juni 1949 folgte noch die mit alten Bomben beladene »Empire Conyngham« auf Position 47°52’N – 8°51’W in fast 2.100 m Tiefe. Die Rostocker Neptun Werft hatte den Frachter 1889 als »Marie« gebaut. Letzter Eigentümer war das britische Kriegsministerium.

Schiffsfriedhöfe

Insgesamt sind vor Arendal mindestens 38 verschieden große »Hulks« versenkt worden, südlich der schwedischen Insel Maseskär in nur rund 200 m Tiefe weitere 28 und im westlichen Skagerrak acht Schiffe. Darunter war auch der am 20. Juli 1946 südwestlich Farsund auf Position 57°53′N – 6°13′O gesprengte Leichte Kreuzer »Leipzig« der Reichsmarine mit angeblich 6.500 t Giftgas an Bord.

Als die norwegische Öffentlichkeit von den Vorfällen erfuhr, gab es wütende Proteste. Die Folge: Zwei bereits beladene Schiffe wurden im Juli und August 1948 in erheblich größerer Tiefe in etwa 1.000 m zwischen Norwegen und Island beseitigt. Das war die letzte Giftgranaten-Versenkung der Amerikaner und Briten im Rahmen der Operation »Davy Jones’ Locker«.

Sowjetischer Sonderweg

Auch die Sowjets haben die Nord- und Ostsee massiv belastet. Obwohl die Alliierten vereinbart hatten, deutsche C-Waffen im Atlantik zu versenken, 200 sm nordöstlich der Faröer in 4.000 m Tiefe, fluteten sie 1947 rund 35.000 t einfach in der Ostsee im 70 bis 100 m tiefen Bornholmbecken. Der Grund: Ihnen war der Weg von Wolgast in den Atlantik zu weit. Da alles schnell gehen sollte und die notwendige Entsorgungstechnologie fehlte, schoben die Russen für ihre Entscheidung kurzerhand »aufziehende Winterstürme« vor. 2.000 t Kampfstoffmunition wurden südlich von Gotland in 70 bis 120 m Tiefe entsorgt. Die restlichen etwa 270.000 t versenkten Briten und Amerikaner zusammen mit unbrauchbaren alten Schiffen.

Befehlshaber: »Echte Sauerei«

Einen Teil ihrer Kampfstoffe schafften die Russen im Nordmeer bei der Insel Nowaja Semlja klammheimlich unter Wasser. Dabei gingen 50 Eisenbahnzüge mit jeweils 50 bis 60 mit dem Atemgift Lewisit vollgeladene Waggons auf Grund, wie 1994 der Chemiker Lew Fjodorow enthüllte. Zuvor hatte Admiral Wladimir Tribuz die dramatischen Folgen der Gift-Entsorgung auf See für die Umwelt bereits eingeräumt: »Ich denke, wir haben den zukünftigen Generationen eine echte Sauerei hinterlassen«, sagte der Befehlshaber der sowjetischen Ostseeflotte von 1939 bis 1947. Der Träger des Leninordens starb am 30. August 1977.

In der Ostsee vor Bornholm entdeckten russische Wissenschaftler der Forschungsschiffe »Professor Stockmann« und »Doktor Ljubezkij« in den Jahren 2000 und 2001 in nur 100 m Tiefe drei Schiffe mit C-Waffen. Die Dampfer waren aber nicht nur geflutet worden. »Einschüsse hatten die Bordwände durchlöchert. Die Schiffe wurden kurz und klein geschossen«, berichtete ein Expeditionsmitglied. Telekameras im trüben Licht der Unterwasserscheinwerfer fixierten die mit Geschossen und Fliegerbomben ausgestopften Schiffsräume. Wasser- und Bodenuntersuchungen zeigen eine Vielzahl von Giftstoffen, die aus der durch Korrosion zerstörte Munition austraten. An einigen Stellen betrug die Konzentration an Arsen im Boden bis zu drei Gramm pro Kilogramm. Im Sommer 2006 wurde noch ein viertes Wrack aufgespürt.

Allein zwischen Lettland und Bornholm versenkten die Russen nach eigenen Angaben neben todbringenden Stoffen wie Arsenöl, Adamsit, Chloracetophenon, Chlorasin, Cyanide, Diphenylarsenchlorid und Zyklon B auch aus deutschen Beständen mehrere hundert Tonnen Giftgasbehälter, 409.569 Geschosse und tausende von Geschosskästen, 93.754 Flugzeugbomben, 34.162 Sprengbomben, 1.451 Fässer und 7.860 Zyklon-B-Dosen. Ungeachtet von Protesten und politischen Zusagen in Skandinavien machten die Russen unverdrossen weiter. Hochexplosivstoffe, Fässer mit Kampfstoffen und anderes Material verschwand in den Fischgründen der Ostsee.

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Ein Entwurf für eine Plattform zur Entsorgung von Munitionsresten (© TKMS)

Insgesamt benennt das deutsche Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) als wesentliche Gefahrengebiete für Giftgas drei Bereiche in der Nord- und Ostsee. An erster Stelle wird das Skagerrak mit 130.000 t samt versenkten Transportschiffen aufgeführt. Mehr als 40 solcher Dampfer liegen zwischen Norwegen und Dänemark im 600 bis 800 m tiefen Norwegengraben. In 200 m Tiefe bei Lysekil gibt es einen weiteren Schiffsfriedhof mit 20.000 t Senfgas und anderen Giftstoffen, so britische Behörden.

Auch südlich des Kleinen Belts sind zwei Schiffe mit zehntausenden Granaten mit dem Nervenkampfstoff Tabun versenkt worden. Das passierte allerdings bereits in den letzten Kriegstagen. Die Deutschen wollten so verhindern, dass das Material den Alliierten in die Hände fällt. 1959 und 1960 sind die Granaten aus Sicherheitsgründen geborgen worden. In Beton gegossen wurden sie danach im Golf von Biskaya versenkt. Trotzdem verblieben an der nur 30 m tiefen Position 5.000 t Kampfstoffmunition mit Tabun und Phosgen. Experten stufen die Gefahr jedoch als relativ gering ein.

Noch in diesem Jahr soll immerhin ein deutsches Pilotprojekt zur Bergung von Weltkriegsmunition in der Ostsee vor der schleswig-holsteinischen Küste starten. Dabei soll mittels einer vom Rüstungskonzern ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) konstruierten und weitgehend automatisch arbeitenden Plattform aus Munition mit Spezialbaggern geborgen und entschärft werden. Das Vorhaben finanziert die Bundesregierung zunächst mit rund 100 Mio. €. Vielleicht kann Deutschland damit sogar eine Vorreiterrolle einnehmen – für die Umwelt, bevor es zu spät ist.


Autor
Frank Binder
Wirtschaftsjournalist und Buchautor (»Schwerer Kreuzer Blücher«), Ahrensburg