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Entscheidung des Amtsgerichts Kiel vom 22.07.2010: Die Messung der Geschwindigkeit von Wasserfahrzeugen ist auf der Grundlage von AIS-Aufzeichnungen nur eingeschränkt möglich. In jedem Fall ist eine Messtoleranz von 1 kn (1,85 km/h) einzuräumen (Leitsatz der Redaktion).

Beschluss des Amtsgericht Kiel vom 22. Juli 2010 [Az: II 41 OWi 590 Js-OWi 3429/09 (5/09)]:

In[ds_preview] dem Bußgeldverfahren gegen den Seelotsen R.-C.W. … wegen Ordnungswidrigkeit wird der Betroffene auf Kosten der Landeskasse, die auch seine notwendigen Auslagen trägt, freigesprochen.

Gründe:

Die Beteiligten haben einer Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 72 OWiG zugestimmt.

Mit Bußgeldbescheid vom 11.07.2008 wurde dem Betroffenen folgender Vorwurf gemacht:

Am 16.03.2008 habe er als verantwortlicher Lotse mit dem MS »E« den Nord-Ostsee-Kanal ostwärts befahren. Mittels AIS sei festgestellt worden, dass er in der Zeit von ca. 01:55 Uhr UTC bis ca. 02:31 Uhr UTC mit einer Geschwindigkeit von bis zu 9,0 Knoten (ca. 16,7 km/h) SOG gefahren sei. Die zulässige Geschwindigkeit auf dem Nord-Ostsee-Kanal betrage 15 km/h bzw. 8,1 Knoten und sei bindend. Demnach sei die zulässige Höchstgeschwindigkeit von dem Betroffenen überschritten worden. In der Zeit von ca. 02:20 Uhr UTC bis ca. 02:27 Uhr UTC habe der Betroffene die Total Bunkerbrücke 3 passiert. An der Brücke habe ein Schiff zum Bebunkern gelegen. Gleichzeitig seien 4 weitere Fahrzeuge entgegengekommen. Bei Gegenverkehr und beim Vorbeifahren an festgemachten Fahrzeugen sei besondere Vorsicht geboten, um eine Gefährdung durch Sog oder Wellenschlag zu vermeiden. In der Regel sei jede Geschwindigkeit rechtzeitig zu verringern. Bei einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit könne nicht mehr von einer sicheren Geschwindigkeit die Rede sein. Der Betroffene sei ortskundig und die geltenden Vorschriften seien ihm bekannt. Als Lotse sei es seine Aufgabe die Schiffsführung so zu beraten, dass sie die geltenden Vorschriften einhalten könne. Er sei dazu verpflichtet, auf die Einhaltung der Vorschriften durch die Schiffsführung hinzuwirken. Dazu wäre es in diesem Fall auch erforderlich gewesen, die geplanten Kommandos in englischer Sprache mit der Schiffsführung abzusprechen. Der Betroffene habe als verantwortlicher Lotse fahrlässigen gegen § 4 Abs. 2 und 26 Abs. 1 und 3 i. V. m. 61 Abs. 1 Nr. 2 und 9 der Seeschifffahrtsstraßen-Ordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 1998, zuletzt geändert durch Art. 1 der 8. Schifffahrtssicherheitsanpassungsverordnung vom 28.06.2006.

Der Betroffene war insoweit jedoch aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.

Nach dem Akteninhalt konnten folgende Feststellungen getroffen werden:

Der Betroffene ist Lotse. Er war als solcher am 16.03.208 für das Motorschiff MS »E« auf der Fahrt auf dem Nord-Ostsee-Kanal in westlicher Richtung verantwortlich. Unter Abzug eines vorzunehmenden Sicherheitsabschlags von einem Knoten konnte jedoch kein vorwerfbarer Geschwindigkeitsverstoß des Motorschiffes »E« von über 8,1 Knoten über Grund auf der Fahrt im Nord-Ostsee-Kanal festgestellt werden.

Der Betroffene hat eingeräumt, als Lotse für die Fahrt des Motorschiffes MS »E« am 16.03.2008 im Nord-Ostsee-Kanal verantwortlich gewesen zu sein. Er hat jedoch bestritten, das die MS »E« zu schnell im NOK gefahren sei.

Der Sachverständige B hat in seinem Gutachten die von der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord zugrunde gelegte Geschwindigkeitsermittlung anhand der mittels AIS übertragenen Daten zunächst nachvollziehbar erläutert.

In diesem Zusammenhang hat er überzeugend ausgeführt, dass durch die MS »E« mittels AIS GPS-Daten, nämlich jeweilige Position und Zeit, übertragen wurden, anhand derer die Geschwindigkeit durch eine Weg-Zeit-Berechnung ermittelt werden konnte.

Anhand der im Zeitraum von 01:55 Uhr UTC bis 02:31 Uhr UTC auf diese Weise mittels GPS ermittelten und übertragenen Positionsdaten ließ sich zwar rein rechnerisch eine Geschwindigkeit des MS »E« bis zu 9 Knoten über Grund ermitteln. Denn das Schiff beschleunigte ab 02:20 Uhr UTC bis ca. 02:27 Uhr UTC rein rechnerisch auf eine Geschwindigkeit von ca. 8,7 Knoten über Grund, wovon jedoch unter Abzug des Toleranzwertes von einem Knoten nur 7,7 Knoten vorzuwerfen sind. Danach fuhr das Schiff bereits rein rechnerisch nur noch mit einer Geschwindigkeit von etwa 7,7 Knoten über Grund. Ab 02:29 Uhr UTC bis 02:31 Uhr UTC fuhr das Schiff dann wieder mit rein rechnerisch einer Geschwindigkeit bis zu 9 Knoten über Grund, wobei jedoch unter Abzug des Toleranzwertes von einem Knoten nur bis zu 8 Knoten vorzuwerfen sind.

Die rechnerische Ermittlung beruht nach den Ausführungen des Sachverständigen B auf der Übertragung der durch das an Bord befindliche GPS-Gerät ermittelten Zeit- und Positionsdaten. Dabei ist der Hersteller des hier verwandten GPS-Gerätes nicht bekannt. Das GPS-Gerät ist ferner nicht geeicht. Aus diesem Grunde ist von den rechnerisch ermittelten Werten ein Toleranz-

abzug vorzunehmen, den das Gericht mit einem Knoten ansetzt.

Entgegen der Auffassung des Betroffenen liegt zunächst eine ausreichende Rechtsgrundlage dafür vor, die durch das AIS übermittelten Daten (einschließlich GPS-Daten) im vorliegenden Bußgeldverfahren zu verwenden.

(Vom Abdruck der eingehenden Begründung des Gerichts zu einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage für die Nutzung von AIS-Daten in Bußgeldverfahren wird an dieser Stelle abgesehen.)

Im Ergebnis genügen die gesetzlichen Grundlagen daher zumindest bei Seeschifffahrtsstraßen dem Bestimmtheitsgebot und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Hinsichtlich der übermittelten GPS-Daten und der daraus errechneten Geschwindigkeit ist jedoch ein Sicherheitsabschlag von einem Knoten vorzunehmen.

Die Positionsdaten, die vorliegend vom GPS-Gerät übertragen worden sind, sind entgegen der Auffassung des Betroffenen hinreichend genau, um darauf eine Geschwindigkeitsermittlung zu stützen.

Denn aus den insoweit überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen B ergibt sich, dass die anhand des GPS-Geräts ermittelten Positions- und Zeitdaten der MS »E«, die von dem dortigen AIS-System übertragen worden sind, plausibel sind. Der Sachverständige hat die angegebenen Positionsdaten auf eine Seekarte übertragen. Daran lässt sich feststellen, dass die angegebenen Positionsdaten alle im Nord-Ostsee-Kanal liegen und einen überwiegend gradlinigen Verlauf ergeben.

Ausgenommen sind jedoch die Positionen 40 bis ca. 45. Die Position 40 befindet sich nämlich links von der Kanalmitte. Die nachfolgenden Positionen führen dann wieder gradlinig in den Bereich rechts der Kanalmitte zurück. Der hier vorgeworfene Geschwindigkeitsverstoß ereignete sich vorwiegend zwischen Position 34 und Position 48.

Zwischen den Positionen 34 und 48 wurde nach den insoweit nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen B eine Distanz von 1,393 km zurückgelegt worden, was einer errechneten Durchschnittsgeschwindigkeit von 16,7 km/h entspricht.

Auch hinsichtlich der Position 40 folgt das Gericht den Ausführungen des Sachverständigen, dass diese Position zutreffend ermittelt sei, weil anhand der Folgepositionen der gradlinige Weg des Schiffes auf seine Kanalseite plausibel sei.

Dennoch hat der Sachverständige B die vom Betroffenen aufgeführten Bedenken, die sich in den schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen Dr. B niedergeschlagen haben, hinsichtlich der generellen Fehlerquellen bei Positionsdaten, die mittels GPS-Geräten ermittelt werden, nicht voll umfassend ausräumen können.

Nach den Ausführungen von Dr. B können die vom GPS ermittelten Daten der Positionsbestimmung aufgrund von Abschattungen des Antennenhorizonts z. B. durch hohe Bauwerke, Brücken o. ä. durch Signalstörungen bei Hochspannungs- und anderen Leitungen sowie durch Mehrfach-Ausbreitung von Signalen gestört werden. Letztlich hat auch der Sachverständige B nicht auszuschließen vermocht, dass es diese Fehler geben kann. Er vertrat jedoch die Auffassung, dass sich die Fehler entweder gleich als evident herausstellen müssten oder im Ergebnis aufgrund der Vielzahl der Daten unerheblich sei. Dieser Auffassung vermochte das Gericht nicht zu folgen. Vielmehr ist aufgrund der theoretischen Fehlerquellen bei ungeeichten Messgeräten bereits aus grundsätzlichen Erwägungen ein Toleranzabzug von einem Knoten erforderlich. Dies folgt aus folgender Erwägung: Bei Geschwindigkeitsmessungen mit geeichten Geschwindigkeitsmessgeräten im Straßenverkehr wird nach ständiger Rechtssprechung bis 100 km/h in jedem Fall ein Mindesttoleranzabzug von 3 km/h in Abzug gebracht, um allen etwaigen Fehlerquellen Rechnung zu tragen. Es ist nicht ersichtlich, dass die hier vorliegende Geschwindigkeitsermittlung genauer wäre als eine Geschwindigkeitsermittlung mittels eines modernen Poliscan-Gerätes oder eines anderen standardisierten Messverfahrens im Straßenverkehr.

Das Gericht hat hier jedoch einen Toleranzabzug von 1 Knoten ausreichen lassen und nicht 1,618 Knoten in Abzug gebracht, weil der Geschwindigkeitsmessung viele Einzeldaten zugrunde liegen und eine weitaus längere Geschwindigkeitsmessung als im Straßenverkehr erfolgt und deshalb ein Abzug von einem Knoten unter Berücksichtigung aller Umstände insbesondere auch der im Verhältnis niedrigeren Höchstgeschwindigkeiten als ausreichend angesehen wird.

Da sich somit ein Verstoß gegen die Höchstgeschwindigkeit von 8,1 Knoten über Grund nicht feststellen ließ, konnte auch kein Verstoß gegen die sichere Geschwindigkeit festgestellt werden. Denn es konnte nicht festgestellt werden, dass die MS »E« einen Schwell erzeugte. Denn neben dem Motorschiff »E« fuhr im kritischen Zeitraum auch ein anderes Schiff an der Total Bunkerbrücke 3 vorbei. Dabei konnte nicht festgelegt werden, welches Schiff den fraglichen Schwell erzeugte. Demzufolge konnte auch kein Verstoß des Betroffenen gegen seine Aufgabe festgestellt werden, die Schiffsführung so zu beraten, dass sie geltende Vorschriften einhalten kann.

Nach allem war der Betroffene mit der Kostenfolge gem. § 467 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG freizusprechen.

Zu dieser Entscheidung veröffentlichen wir eine eingehende Stellungnahme von Rechtsanwalt Dr. D. Zschoche, Ince & Co., Hamburg, in der folgenden Ausgabe der HANSA.