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Damit eine Havarie nicht zur Katastrophe wird

»Vor dem Hintergrund generell zunehmender Verkehrszahlen größer werdender Schiffe mit einem hohen Anteil Gefahrgutladung (…) müsste das Notschleppkonzept der Bundesregierung aktualisiert und überarbeitet werden«. Das forderte im Sommer 2006 ein Bundestagsantrag der regierenden Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD. Der Deutsche Bundestag beschloss am 28. Juni 2006 die Umsetzung dieses Antrags.

Die Havarie des Frachters »Pallas« im Jahre 1998 vor der nordfriesischen Küste veranlasste das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung[ds_preview], die »Grobecker Kommission« (benannt nach dem Senator a.D. Claus Grobecker) zur Untersuchung des Vorfalls einzusetzen. Die von dieser Expertengruppe verfassten Empfehlungen bildeten die Grundlage für konkrete Maßnahmen zur Verbesserung einer maritimen Notfallvorsorge, die eine Projektgruppe des Ministeriums dann vorlegte. Die Überarbeitung des Notschleppkonzeptes hatte zum Ziel, die deutschen Seegewässer flächendeckend mit Fahrzeugen auszustatten, die in der Lage sind, bei einer Havarie schnell und effizient sowie mit ausreichender Zugkraft einzugreifen.

Dieses Notschleppkonzept umfasste in der Nordsee drei Seeschlepper. Neben den bundeseigenen Gewässerschutzschiffen »Mellum« und »Neuwerk« mit jeweils 110 t Pfahlzug wurde 1996 nach europaweiter Ausschreibung die »Oceanic« mit 179 t Pfahlzug gechartert. Auf dem mittlerweile 41 Jahre alten Hochseebergungsschlepper befindet sich auch das zum Konzept gehörende vierköpfige Boarding Team für die Nordsee. Der Deutsche Bundestag hatte hierfür die Vorhaltung eines gecharterten Notschleppers festgelegt, der bei einem auf 6 m reduzierbaren Tiefgang die Leistung von mindestens 200 t Pfahlzug und minimal 19,5 kn Geschwindigkeit leistet. Hinzu kam die Forderung, für den Einsatz in gefährlicher Atmosphäre gemäß GL-Richtlinien geeignet zu sein.

Die Vorgabe für die Ostsee beinhaltete mindestens 100 t Pfahlzug und mindestens 16,5 kn sowie die Eignung, in ölbedecktem Gewässer – ebenfalls gemäß GL-Richtlinien – operieren zu können.

In der Ostsee wird seit 1998 die »Scharhörn« mit einem Pfahlzug von 40 t eingesetzt. Ihre Ausrüstung wurde 2002 optimiert und im Oktober 2004 ergänzten das Schadstoffunfallbekämpfungsschiff »Arkona« die Notfallflotte mit ebenfalls 40 t Bollard Pull sowie die mit 65 t Pfahlzug ausgestatteten »Fairplay 25« und »Fairplay 26«, die in Sassnitz bzw. Warnemünde stationiert sind. Hinzu kommt die »Bülk«, die mit ihren 40 t Pfahlzug von Kiel aus operiert. Die drei Notfallschlepper wurden ebenfalls vom Bund gechartert.

Die Entwicklung des neuen Nordsee-Notschleppers ist das Ergebnis einer zehnjährigen sorgfältigen Planung von Bugsier und seinen Partnern in der Arbeitsgemeinschaft Küstenschutz (ARGE). Das Einsatzgebiet vor der deutschen Nordseeküste kann von unvorhersehbaren und gefährlichen Wetterlagen betroffen sein, unter schweren und gefährlichen Seegangsbedingungen. Zudem handelt es sich um ein zunehmend verkehrsreicheres Gebiet für Schiffsverkehre aller Art, mit vielen potenziell gefährlichen oder umweltgefährdenden Ladungen. Bei einem Maschinenausfall oder anderen gefährlichen Ereignissen ist die Verfügbarkeit eines für diesen speziellen Zweck entwickelten Notschleppers entscheidend, um schwere Umweltschäden sowie die Gefahr für oder den Verlust von Menschenleben abzuwenden. Die Anordnung des achteren Arbeitsdecks ermöglicht es der Besatzung, unabhängig von den Wetterbedingungen an Deck zu arbeiten, damit die rettende Schleppverbindung zu einem Havaristen hergestellt werden kann. Die Rumpfkonstruktion wurde auch so gewählt, damit sie dem 78 m langen Schlepper eine Höchstgeschwindigkeit von fast 20 kn verschafft. Bei einer Havarie ist es besonders wichtig, schnell vor Ort zu sein und zum Herstellen einer Schleppverbindung exakt manövrieren zu können oder in Notfällen umgehend auch andere Hilfestellungen zu leisten.

Als weitere Besonderheit der »Nordic« ist ihre weltweit einzigartige Eignung für den außenluftunabhängigen Einsatz in gefährlicher Atmosphäre. Treten bei einem Havaristen zündfähige oder schädliche Stoffe aus, ist einem herkömmlichen Schlepper das Herstellen einer Schleppverbindung ohne Gefahr für das eigene Schiff und die Bergungsmannschaft unmöglich. Der Neubau kann durch umfangreiche Maßnahmen geschützt dennoch in die Gefahrenzone eindringen. Anders als bei einem militärischen ABC Einsatz (= Atomar-/Biologisch-/Chemisch), bei dem bekannte Stoffe durch einen geeigneten Filter zurückgehalten werden können, sind bei einer Havarie eine Vielzahl von giftigen oder zündfähigen Schadstoffe möglich. Auf dem Notschlepper-Neubau wird bei einem solchen Einsatz eine außenluftunabhängige Schutzluftversorgung eingesetzt. Sie ist von der ARGE und dem für seine maritimen Schutzprodukte bekannten norddeutschen Hersteller Dräger gemeinsam entwickelt worden. Im Falle eines Gasschutzbetriebes kann die Besatzung den gesamten Aufbau einschließlich des Maschinenraums) gasdicht verschlossen werden. Durch die Zuführung sauberer Schutzluft in die »Zitadelle« entsteht ein Überdruck, der ein Eindringen von Schadstoffen verhindert. Diese Maßnahme schützt die Besatzung, die im GSB innerhalb der Zitadelle ihre Aufgaben ohne zusätzliche Schutzmaßnahmen wie z. B. Schutzkleidung durchführen kann. Gleichzeitig sind innerhalb der Zitadelle alle technischen Einrichtungen vor zündfähigen Gasen geschützt. Eine außenluftunabhängige Schutzluftversorgung ist deshalb notwendig, weil bei einem akuten Einsatz zur unmittelbaren Gefahrenabwehr oft keine Informationen über mögliche Schadstoffe vorliegen. Für eine außenluftabhängige Schutzluftversorgung müssen für die richtige Filterwahl aber die Schadstoffe bekannt sein.

Bei ihrer Gefährdungsanalyse kam die ARGE zu dem Ergebnis, dass aufgrund der zu erwartenden Einsätze des Notschleppers ein Schutz lediglich über Filtersysteme ungeeignet sei. Zudem fordern die Berufsgenossenschaften in ihren Richtlinien die außenluftunabhängige Schutzluftversorgung. Bei einem akuten Einsatz spart man zusätzlich kostbare Zeit, da keine zeitaufwändigen Messungen durchgeführt werden müssen.

Am 8. Dezember 2010 wurde der Notschlepper Nordsee von der Ehefrau des amtierenden Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, Susanne Ramsauer, auf den Namen »Nordic« getauft. Enak Ferlemann, Staatssekretär beim Bundesverkehrsminister, stellte in seiner bei der Taufzeremonie gehaltenen Rede fest: » Die »Nordic« wird als unser leistungsfähigster deutscher Schlepper künftig für noch mehr Sicherheit in der Nordsee sorgen. Mit einer Zugkraft von über 200 t kann er in Notfällen auch die größten zurzeit in Fahrt befindlichen Containerschiffe auf den Haken nehmen und an einen sicheren Ort bringen. Außerdem kann der Schlepper auch bei havarierten Frachtern Hilfe leisten, bei denen giftige oder explosive Stoffe austreten. Das ist europaweit einzigartig«. Das Bundesverkehrsministerium hat den Schlepper über die Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord in Kiel für zunächst zehn Jahre gechartert. Ferlemann weiter: »Gemeinsam mit diesem leistungsfähigen Schlepper und allen aus dem Notschleppkonzept bereit stehenden Einheiten kann Deutschland seinen hohen, europaweit beispielhaften Sicherheitsstandard weiterhin wahren«.


GF