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Die romantischen Vorstellungen von Piraterie scheinen unausrottbar zu sein. Gefördert von Abenteuerfilmen und Piratenromanen und dem Bild eines Klaus Störtebeker, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben, sehen viele Menschen die Seeräuber unserer Zeit vor der ostafrikanischen Küste als arme Opfer der Globalisierung an.

Nach einer oft wiederholten und weit verbreiteten Meinung überfallen sie Schiffe der Handelsflotte, weil große und leistungsfähige Fangschiffe europäischer und[ds_preview] asiatischer Staaten angeblich ihre Fanggründe vor Somalia leer fischen und die Menschen damit ihrer Lebensgrundlage berauben. Doch die Situation ist wesentlich differenzierter. Die Fischerei ist kein traditioneller Erwerbszweig der somalischen Wirtschaft. Seit Menschengedenken sind die Somali eine Hirtengesellschaft mit stark hierarchisch geprägten Strukturen. An der Spitze stehen Menschen, die sowohl Land als auch Vieh besitzen und höchstes gesellschaftliches Ansehen genießen. Nach ihnen rangieren Menschen, die zwar Vieh besitzen, aber kein Land, auf dem es weiden kann. Sie zahlen an die Landbesitzer für die Weiderechte ihrer Herden. In der gesellschaftlichen Rangfolge kommen nach ihnen die Handwerker, die Waren produzieren. Nur die Menschen, die in diesem wirtschaftlichen Gefüge keinen Platz finden, ziehen an die Küste und fangen Fische für den Eigenbedarf. Im gesellschaftlichen Ansehen stehen sie auf der gleichen Stufe wie früher die Sklaven.

Durch die Dürrekatastrophe Anfang der 1970er Jahre in der Sahelzone, in der auch die Weidegebiete Somalias liegen, verloren viele Menschen ihre Herden. Besonders hart traf es jene, die kein Land besaßen. Sie zogen an die Küste, um nun ebenfalls mit Fischfang für den Eigenbedarf ihr Überleben zu sichern.

Fische sind in Somalia kein beliebtes Nahrungsmittel, weshalb sich zu jener Zeit trotz des Fischreichtums vor der afrikanischen Küste aus dem Fischfang kein lohnender lokaler Wirtschaftszweig etablieren ließ. Also baute die Regierung Siad Barre eine Industrie auf, um Fischkonserven und -produkte für den Export herstellen zu können. Bis zum Beginn des somalischen Bürgerkrieges erreichte diese Fischereiwirtschaft einen Anteil von 2 % des gesamten wirtschaftlichen Einkommens Somalias. Mit dem Sturz Siad Barres 1991 begann der bis heute andauernde somalische Bürgerkrieg, durch den auch diese Strukturen zerstört wurden. Fischfang wurde wieder nur zur Selbstversorgung betrieben.

Nach der weltweiten Ausdehnung der ausschließlichen Wirtschaftszonen von Küstenanrainerstaaten auf 200 Seemeilen im Zuge des Seerechtsüber­ein­kom­mens in den 1980er Jahren wurde Staaten, die keine geeigneten Fangflotten zur Nutzung die­se Wirtschaftszonen besaßen, die Möglichkeit zugestanden, staatliche Lizenzen an ausländische Unternehmen zu vergeben. Damit wurde die internationale Fischerei im Gebiet zwischen 12 und 200 Seemeilen erlaubt. Staatliche Strukturen zur Ausstellung solcher Lizenen existierten in Somalia jedoch nicht mehr, und so stellten lokale Machthaber den ausländische Fischereiflotten für hohe finanzielle Gegenleistungen Fanggenehmigungen ohne offizielle Gültigkeit aus.

Als die ausländischen Fangschiffe, deren Tätigkeiten von keiner Küstenwache kontrolliert wurden, Nacht für Nacht auch in die traditionellen Fanggebiete der somalischen Fischer eindrangen, um Krabben und Hummer zu fangen, setzten sich die Fischer zunächst mit Waffengewalt zur Wehr. Die notwendigen Waffen zu beschaffen, war in dem Bürgerkriegesland kein Problem. Später gingen sie dazu über, von den Trawlerkapitänen Schutzgelder zu verlangen. Die Kapitäne zahlten zunächst notgedrungen, denn die waren sich einerseits der unsicheren Rechtslage bewusst, andererseits bedeuteten solche Zahlungen für sie angesichts der fischreichen Fanggründe keine wesentlichen wirtschaftlichen Einbußen.

Dann aber stellte der Somali Hiif Ali Taar – ein reicher Geschäftsmann aus der Hafenstadt Bossaso, eine 200 Mann starke Privat­armee auf und rüstete zwei Küstenwachboote mit Maschinengewehren aus. So schützte er die ausländischen Fischer, denen er eigenmächtig Fanglizenzen verkauft hatte, vor seinen räubernden Landsleuten. Illegale Fänge in Somalias Gewässern hatten laut Financial Times einen Wert von bis zu 300 Millionen Dollar pro Jahr.

Das lief so lange, bis einige Fischer aus dem Küstenort Eyl entdeckten, dass Piraterie sehr viel lukrativer ist als die bloße Verteidigung ihrer Fischereirechte. Mittlerweile verdienen sie Millionen mit der Entführung von Schiffen, und Menschen aus anderen Küstenorten machen es ihnen nach. Nachdem die ersten Trawler von Piraten gekidnappt und in Mutterschiffe für Einsätze kleiner Boote auf hoher See umfunktioniert worden waren, trauten sich kaum noch ausländische Fischer vor die somalische Küste. Kenianische Fischer sagen, deshalb hätten sich die Fischbestände sehr gut erholt. Greenpeace-Mitarbeiter Hassan Farah Obaidullah bestätigt, dass ­dies mittlerweile auch die somalischen Fischer spüren – ihre Fänge haben sich mehr als verdoppelt und längst ausgerottet geglaubte Arten tauchen wieder auf. Auf dem Fischmarkt der somalischen Hauptstadt Mogadischu hat das gestiegene Angebot laut der Presseagentur AP sogar einen Preisverfall ausgelöst.

Von der Piraterie zu lassen und wieder auf Fischfang zu gehen, daran denkt jedoch offenbar keiner der jungen Männer auf den bewaffneten Piratenskiffs vor der Küste. Sie gehen dort draußen zwar ein höheres Risiko ein, verdienen aber auch wesentlich mehr Geld. Und sie haben einen sozialen Aufstieg geschafft: Nun gelten sie nicht mehr als Angehörige der untersten und verachteten Schicht, sondern als heldenhafte Krieger – wie jene jungen Männer, von denen alte afrikanische Legenden berichten. Deshalb werden wohl die Versuche erfolglos bleiben, für die jungen Männer an Land Jobs zu schaffen, damit sie dort ihr Geld verdienen.

Doch trotz dieser Tatsachen hält sich die Behauptung, den einstigen Fischern bleibe nichts anderes übrig, als Piraten zu werden, weil ihnen ausländische Trawler die Fische wegfangen. Als im November 2010 in Hamburg jene zehn Piraten vor Gericht gestellt wurden, die das Schiff »Taipan« überfallen hatten, demonstrierten vor dem Gebäude des Oberlandesgerichtes politische Gruppen mit Transparenten dagegen, die »Opfer des kolonialen Unrechts« vor Gericht zu stellen. Und während der Gerichtsverhandlung führten sogar die Verteidiger diese angeblich ausweglose wirtschaftliche Situation als »mildernde Umstände« an. Wenn diese Männer jedoch wirklich hätten fischen wollen, hätten sie dafür die besten Bedingungen gehabt. Aber das Abenteuerliche würde fehlen und sie würden wesentlich weniger verdienen.
Eigel Wiese