Print Friendly, PDF & Email

Erstmals liegt für deutsche Küstengewässer eine Zentralübersicht vor. Mehr Geld und personelle Ressourcen werden für die Kampfmittelräumung benötigt. Die Industrie soll leistungsstarke Erkundungs- und Bergungstechnik entwickeln.

Die Ostsee und Nordsee gehörten sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg zu den Hauptkampfgebieten. Vor allem der intensive[ds_preview] Minenkrieg, der in beiden Weltkriegen geführt wurde, hinterließ noch für lange Zeit danach seine Spuren. Zusätz-lich wurden die beiden Meere nach dem Zweiten Weltkrieg als scheinbar problemloser, preiswerter und günstig zu errei-chender »Entsorgungsplatz« für Altmunition genutzt, frei nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn«.

Einen besonders brisanten Bestandteil dieser heute nur noch sehr schwer nachvollziehbaren Entsorgungspraxis stellen chemische Kampfstoffe dar. Auf Betreiben der alliierten Siegermächte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg große Mengen dieser aus deutscher Produktion stammenden Munition ver­senkt.

BSH leistete 1993 erstmals wertvolle Pionierarbeit

Die systematische Aufarbeitung dieses Altmunitionskapitels fand erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg statt, genau gesagt mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Das gilt vor allem für den Teil der mittleren und östlichen Ostsee, der in den Jahrzehnten des »Kalten Krieges« durch den damaligen Warschauer Pakt gewissermaßen hermetisch abgeriegelt war. Bekannt war im Westen lediglich, dass rund um die dänische Ostseeinsel Bornholm eine besonders starke Belastung mit chemischen Kampfstoffen aus Zweiter-Weltkriegs-Produktion bestand und weiterhin besteht.

Im Jahr 1993 nahm das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) erstmals eine systematische Untersuchung des Bereichs der südlichen und westlichen Ostsee auf die Belastung mit chemischen Kampfstoffen vor und führte die aufwändig ermittelten Forschungsergebnisse in einer Studie zusammen. Obwohl inzwischen fast 20 Jahre alt, stellt sie auch heute noch eine wichtige Erkenntnisquelle und Arbeitsgrundlage für viele Einrichtungen dar.

Heute wissen wir zudem: Nicht nur in der Ostsee, sondern auch auf dem Meeresgrund der Nordsee »ruhen« noch rund 170.000 t chemischer Kampfmittel in Form von Granaten, Bomben und Kanistern oder als »Komplettladung« in Schiffswracks.

Chemische Kampfstoffe bleiben eine tickende Zeitbombe

In der Ostsee bestehen die Entsorgungsgebiete im bereits erwähnten Bornholm-Becken, im Gotland-Becken sowie im Kleinen Belt. Die Mengenangaben fallen dabei etwas ungenau aus. Das Spektrum reicht von 42.000 bis 65.000 t. Auf Anordnung der Alliierten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere mit Chemiewaffen beladene Frachter versenkt, und zwar im Skagerak, in der Deutschen Bucht sowie im europäischen Nordmeer. Prekär: Vor Helgoland liegen etwa 90 t des Nervenkampfstoffs »Tabun«, in Artilleriegranaten abgefüllt. Der Kleine Belt »beherbergt« noch heute rund 5.000 t Chemiekampfstoffe, ebenfalls in Form von Artilleriemunition. Diese Menge war schon größer, bevor davon in den Jahren 1959 und 1960 1.000 t geborgen und im Golf von Biskaya erneut versenkt wurden. Aus heutiger Sicht ist es nur ein schwacher Trost, dass die dortigen Wassertiefen – im Gegensatz zur »Badewanne« Ostsee – je nach Position in die tausende Meter gehen.

Eine systematische Altmunitionsbeseitigung gab es ansatzweise schon nach den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts. Dazu gehörte unter anderem das Beseitigen von alten Minensperren. Allein in Nord- und Ostsee wurden im Zweiten Weltkrieg mehr als 600.000 Minen gelegt.

Unter Aufsicht der Alliierten entstand nach dem Zweiten Weltkrieg ein deutscher Minenräumdienst, der sich aus ehemaligen Angehörigen der deutschen Kriegsmarine (KM) rekrutierte, die dafür auf Minensuch- und Räumbooten der KM fuhren. Im Herbst 1946 erreichte der Minenräumdienst mit rund 27.000 Mann einen personellen Höchststand. Wie gefährlich die Aufräumarbeiten waren, zeigt diese Zahl: 384 Menschen kamen dabei ums Leben, acht Boote flogen bei den Bergungsarbeiten in die Luft.

Vor allem in den 1950er Jahren und auch später verdienten sich manche Fischer ein kleines Zubrot durch die nicht gerade ungefährliche »Munitionsfischerei«. Profes­sionelle Entsorgungsfirmen traten ebenfalls in Aktion. Auf diese Weise wurden schätzungsweise 250.000 t Altmunition in den (west-)deutschen Bereichen von Nord- und Ostsee beseitigt.

Auch die Marinen der beiden deutschen Staaten leisteten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wertvolle Arbeit beim Aufspüren und beim Beseitigen von Altmunition. In diesem Zusammenhang verdient die systematische Altmunitionserkundung und -beseitigung der Nato-Marinen, einschließlich der deutschen Marine, vor den Küsten der Baltischen Staaten Erwähnung. Sie begann erstmals 1996 unter dem verheißungsvollen Namen »Open Spirit«. Tätigkeitsschwerpunkte bildeten hier die Zufahrtswege zu und die potenziellen Reede-Ankerbereiche vor den Häfen. Neben Seeminen wurden vor allem Torpedos und Bomben unschädlich gemacht. Zudem wurden verschiedene Schiffs- und Flugzeugwracks aus Kriegszeiten entdeckt. Die gesammelten Erkenntnisse flossen allesamt in eine große durch die deutsche Marine erstmals im Jahr 2000 veröffentliche Dokumentation – den »BOP« (Baltic Sea Ordnance Pilot) – ein, der seitdem als »lebendes Dokument« fortgeführt wird und fortwährend um neue Erkenntnisse ergänzt wird.

Konventionelle Munition klingt »harmlos«, ist es aber nicht

Auch die Natur förderte im Laufe der Jahrzehnte immer wieder einmal Weltkriegsmunition an die Wasseroberfläche und damit ebenfalls an die Strände. Dann kümmerten sich die Kampfmittelbeseitigungsdienste um das Unschädlichmachen dieser explosiven Hinterlassenschaften. Eine neue Qualitätsstufe in Sachen Altbestandsermittlung wurde Anfang 2009 erreicht, als eine spezielle Bund-Länder-Arbeitsgruppe (ARGE BLMP) beschloss, die Belastung von Nord- und Ostsee mit konventionellen Munitionsrückständen systematisch zu ermitteln. Mehrere Experten aus verschiedenen Ministerien, Fachbehörden und der deutschen Marine trugen dazu im Verlauf von fast drei Jahren eine Fülle von Fakten zusammen. Selbst wenn die Bezeichnung »konventionelle Munition« weniger dramatisch klingt als der Begriff »chemische Kampfstoffe«, so ist doch auch diese Munition sogar nach Jahrzehnten immer noch hochgefährlich für den Menschen, wenn er unerwartet mit ihr in Berührung kommt. Das betrifft im Besonderen die Mitglieder jener Berufsgruppen, die in direkter Weise vom Meer leben, etwa die Fischer.

Allen Beteiligten geht es um ein Höchstmaß an Transparenz

Der Bericht wurde Anfang Dezember 2011 in Hamburg im Rahmen einer Fachkonferenz vorgestellt. Dabei sorgte vor allem eine Zahl für Aufsehen. Nach wie vor liegen allein im Bereich des deutschen Teils von Nord- und Ostsee rund 1,6 Mio. t konventionelle Munition. Der Löwenanteil davon konzentriert sich auf die Nordsee.

Der jetzt vorliegende, ebenfalls als »lebendiges Dokument« angelegte Bericht schließt eine große Wissenslücke. Wegen seiner gesellschaftlichen und politischen Bedeutung ist das Werk seit dem 5. Dezember 2011 im Internet einseh- und abrufbar (www.munition-im-meer.de). Erkenntnisse, die in den kommenden Jahren gesammelt, sollen ebenfalls ins Netz gestellt werden. »Es geht uns um ein Höchstmaß an Transparenz«, betonte Dietmar Wienholdt, Leiter der Abteilung Wasserwirtschaft, Meeres- und Küs­tenschutz im Landwirtschafts- und Umweltministerium in Kiel. Zwar solle nichts über Gebühr »dramatisiert«, aber auch nichts »kleingeredet werden«, ergänzte Wienholdt, der den Abschlussbericht symbolisch von Bernd Scherer, dem Leiter der interdisziplinären Arbeitsgruppe, in Hamburg in Empfang nahm. Wienholdt verwies auf die Gesamtbewertung der Experten: »Derzeit ist nicht erkennbar, dass eine großräumige Gefährdung der marinen Umwelt über den lokalen Bereich der munitionsbelasteten Flächen hinaus vorhanden oder zukünftig zu erwarten ist. Eine Gefährdung besteht jedoch punktuell für Personengruppen, die im marinen Bereich der Nord- und Ostsee mit Grundberührung tätig sind.«

Eine vollständige Munitionsbergung ist nicht bezahlbar

Wegen der gewaltigen Mengen sowie der erheblichen Gefahren beim direkten Umgang mit der Altmunition, aber auch aus Kostengründen ist es völlig illusorisch zu glauben, sie könnte vollständig geborgen werden. Das jedenfalls war die Überzeugung verschiedener Fachleute auf der Tagung. In den meisten Fällen sei es sogar wesentlich sinnvoller, die Altmunition – zumal, wenn sie sich in größeren Wassertiefen befindet – ruhen zu lassen und die bekannten Flächen regelmäßig zu kontrollieren. Das passiert bereits seit Jahrzehnten. Das BSH leistet hier im Rahmen seiner routinemäßigen Vermessungs- und Wrack­ erkundungsfahrten in Ost- und Nordsee wertvolle Arbeit. Alle Erkenntnisse fließen in die für die Schifffahrt und Fischerei wichtigen Seekartenwerke bzw. werden im Rahmen der ebenfalls durch das BSH erstellten »Nachrichten für Seefahrer« fortlaufend veröffentlicht.

Neben dem Umweltaspekt darf auch der Faktor Mensch bei diesem im Wortsinne »brisanten« Thema nicht außer acht gelassen werden. Bis heute fehlt es noch immer an Erkundungs- und Bergungstechnik, die entscheidend dazu beitragen würde, das Risiko für den Menschen im Bergungsprozess zu verringern. Daher forderten die Experten in Hamburg die Industrie auf, entsprechende Techniken zu entwickeln. Noch immer ist es weit verbreiteter Standard, dass Taucher unter Einsatz ihres Lebens bei Munitionsverdachtsflächen und -objekten für letzte Gewissheit sorgen müssen. Eine Lösung wären spezielle Unterwasserdrohnen, mit denen sich die verdächtigen Objekte für den Menschen gefahrlos untersuchen lassen. Sie eignen sich auch, um Sprengladungen abzulegen, so dass die Munition per Fernzündung gesprengt werden kann. In den Nato-Marinen sind solche Drohnen bereits seit Jahr und Tag als wichtige technische Helfer im Einsatz.

Viele Archive wurden systematisch durchforstet

Ein großer Nutzen der jetzt vorliegenden, mehr als 1.000-seitigen Auflistung besteht darin, dass eine Vielzahl von Fakten aus unterschiedlichsten Archiven, Behördenaufzeichnungen, Zeitzeugenberichten und anderen Quellen systematisch zusammengetragen, erfasst und ausgewertet wurden. Auch aus dem Ausland, zum Beispiel aus England, flossen wichtige Erkenntnisse in den neuen Altlasten-Atlas ein. Hingegen gibt es – selbst mehr als 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – noch eine gewisse Zurückhaltung in Russland. Und das, obwohl bekannt ist, dass auch in Russland die mit dem Thema Munition befassten Einrichtungen Daten akribisch festgehalten und archiviert haben. Dagegen weist der Aktenbestand der zuständigen Behörden der ehemaligen DDR Lücken auf. Hier wurde noch kurz vor dem Ende der DDR systematisch Material vernichtet.

Der jetzt vorgelegte Bericht enthält klare Handlungsempfehlungen. So müsse die Politik sich des Themas »Munitionsaltlasten im Meer« und der damit verbundenen Herausforderungen dringend annehmen. Das müsse dazu führen, dass für die weitere Aufarbeitung des Sachverhalts, einschließlich einer umfassenden wissenschaftlichen Begleitung, wesentlich mehr personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden. Zudem sei es wichtig, dass die Meldewege im Falle von im Meer gefundener Altmunition zu straffen. Künftig sollte es einen zentralen Sammel- und Kontaktpunkt in Deutschland geben. Das sei auch vor dem Hintergrund der internationalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet wichtig. Denn das Thema »Umgang mit Munitionsaltlasten in Ost- und Nordsee« ist keinesfalls eine rein deutsche, sondern eine europäische Angelegenheit, so die Überzeugung der Fachleute in Hamburg.

Der Bericht kommt sicherlich zur absolut richtigen Zeit. Vor allem die direkten Küs­tenvorfelder von Nord- und Ostsee werden in den kommenden Jahren »Großbaustellen« darstellen, wenn die ambitionierten Pläne für den Bau von Offshore-Windparks umgesetzt werden sollen. Dabei müssen die Fundamente der gewaltigen Windkraftanlagen tief im Meeresboden verankert werden. Auch das Verlegen der für die Windparks benötigten Seekabel, über die der erzeugte Strom in die Energienetze eingespeist wird, geht mit aufwändigen Arbeiten im Bodenbereich einher.

Ein Satz aus der Gesamtbewertung des Berichts sei nochmals in Erinnerung gerufen: »Eine Gefährdung besteht jedoch punktuell für Personengruppen, die im marinen Bereich der Nord- und Ostsee mit Grundberührung tätig sind.« Daher steht am Anfang jedes neuen Windparks eine gründliche Kampfmittelsondierung. Die Chance, dass dabei neue Altmunitionsfunde gemacht werden, ist nach den neuesten Erkenntnissen durchaus realistisch.
Eckhardt-Herbert Arndt