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Der Prozess in Hamburg gegen zehn mutmaßliche somalische Piraten findet kein Ende. Der Rechtsstaat hat es schwer mit dem Delikt Piraterie.

Die Ereignisse überschneiden sich: Während Anfang September auf dem Gelände der Hamburg Messe im Laufe des Kongresses Maritime Security & Defense[ds_preview] Sicherheitsexperten darüber berieten, wie sich Schiffsbesatzungen gegen Piratenüberfälle sichern können, erlebte nur knapp einen Kilometer entfernt eine Gruppe somalischer Männer den hundertsten Verhandlungstag ihres Strafverfahrens vor dem Hamburger Landgericht. Ihnen wird vorgeworfen, am 5. April 2010 rund 530 sm vor der somalischen Küste das Containerschiff »Taipan« der Hamburger Reederei Komrowski geentert zu haben.

Als der Prozess gegen die zehn Männer im November 2010 unter großer Medienbeachtung eröffnet wurde, umfasste die von Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers verfasste Anklageschrift nur 33 Seiten. Der Ankläger bezeichnete den Sachverhalt seinerzeit als »überschaubar und gut eingrenzbar«. Heute, fast zwei Jahre später und angesichts des hundertsten Verhandlungstages, ist er nicht mehr bereit, sich zum weiteren Verlauf des Verfahrens überhaupt noch zu äußern.

Der Prozess zeigt die Schwierigkeiten des Rechtstaates, sich mit einer Form von Kriminalität auseinanderzusetzen, die jahrhundertelang vor deutschen Gerichten nicht verhandelt wurde, für die folglich keine zeitgemäßen Rechtsnormen und Verfahrensweisen gewachsen sind, an denen man sich orientieren kann. Zudem prallen unterschiedliche kulturelle Auffassungen aufeinander, sind umständliche und sorgfältige Übersetzungen nötig, für die in der somalischen Sprache oft die entsprechenden Begriffe fehlen. Seeleute, die das Verfahren verfolgen, haben nur wenig Verständnis dafür, wenn Medien ausgiebig über die seelische Verfassung der Angeklagten und ihre Ängste berichten, die Situation der betroffenen Besatzung aber kaum Erwähnung findet. Dazu trug allerdings auch der Kapitän bei, der vor dem Hamburger Gericht aussagte, er habe keine Angst gehabt, ein solcher Überfall sei Teil seines Berufsrisikos.

Im Umfeld des Prozesses verwies lediglich Seemannsdiakon Jan Oltmanns vom Seemannsclub Duckdalben im Hamburger Hafen als einer der wenigen darauf hin, welche starken traumatischen Auswirkungen solche Akte der Piraterie auf Seeleute haben, die selbst ebenfalls meist aus armen Ländern des Südens stammen.

Zudem lebten während des Verfahrens auch alte, längst überholte Klischees wieder auf, wie jenes von den angeblich überfischten Gewässern vor der ostafrikanischen Küste und der daraus entstandenen Not, die die Männer um des puren Überlebens willen in die Piraterie getrieben hätte. Ein Sachverhalt, den die Hansa in einem Bericht widerlegt hat.

So sehr sich der Prozess in die Länge zieht, so kurz war der eigentliche Überfall. Am Ostermontag 2010 sollen die zehn Angeklagten den Hamburger Frachter von einem Schnellboot aus vor der Küste Somalias beschossen und gekapert haben. Die 15-köpfige Besatzung konnte sich in den Sicherheitsraum retten und einen Notruf absetzen. Nur wenige Stunden später wurden sie von einem niederländischen Marinekommando der Fregatte »Tromp« befreit. Die Soldaten trugen Kameras an den Helmen, um die Befreiungsaktion zu dokumentieren, so war sie noch am selben Abend europaweit in den Nachrichten zu sehen.

Anfang des Jahres 2012 zeichnete sich kurzfristig ein Ende des Prozesses ab: Die Staatsanwaltschaft hielt Ende Januar ihr Plädoyer und forderte Haftstrafen zwischen vier und elfeinhalb Jahren für die Angeklagten. Doch dann wurden mithilfe des Bundeskriminalamts (BKA) plötzlich noch wichtige Zeugen in Indien gefunden. Im Februar teilte das Gericht den Prozess in zwei Verfahren – um zumindest in einem der beiden zu einem schnellen Ende zu kommen. Weil ein Angeklagter dann jedoch überraschend ein Geständnis ankündigte, das alle Somalier betreffen sollte, wurde dieser Schritt rückgängig gemacht.

In dem Geständnis beschuldigte er seine Mitangeklagten der Lüge. Alle zehn Somalier hätten bei dem Überfall auf den Hamburger Frachter »Taipan« freiwillig mitgemacht, betonte der Mann – sie seien nicht, wie von manchen vor Gericht behauptet, dazu gezwungen worden. Seine Mitangeklagten wiederum erklärten, Drahtzieher des Überfalls seien Verwandte des geständigen Angeklagten gewesen; diese hätten den Überfall von London aus organisiert und Waffen besorgt.

»Die Öffentlichkeit stellt die Frage nach dem Sinn eines solchen Gerichtsverfahrens und der abschreckenden Wirkung auf ostafrikanische Piratenbanden«

Unterdessen diskutiert die Öffentlichkeit über die immensen Kosten des Verfahrens. Die Justizbehörde der Hansestadt muss aus ihrem Etat jeden der 20 Pflichtverteidiger bezahlen. Jeweils zwei Verteidiger pro Angeklagtem erschienen dem Gericht notwendig, damit das Verfahren nicht, möglicherweise durch krankheitsbedingte Ausfälle eines Verteidigers, neu aufgerollt werden müsse. Die Anwälte erhalten pro Tag zwischen 216 und 324 €. Die Justizbehörde wollte die Zahlen des Verfahrens nicht kommentieren und auch keine Stellung zu weiteren Kostenfaktoren beziehen.

Als der siebzigste Verhandlungstag anstand, berichtete jedoch der Sprecher der Justizbehörde, Sven Billhardt, die Kosten hätten sich bis zu diesem Zeitpunkt auf rund 900.000 € summiert. Darin eingerechnet sind zwar die Beträge für die Dolmetscher der zehn Angeklagten sowie deren zwanzig Pflichtverteidiger, nicht aber die Aufwendungen für Untersuchungshaft, Gericht, Staatsanwaltschaft, Sachverständige und Zeugen.

Wegen der langen Verfahrensdauer hatte das Oberlandesgericht beschlossen, drei Angeklagte, die beim Überfall noch Jugendliche oder Heranwachsende waren, seien bis Ende März 2012 freizulassen, wenn bis dahin noch kein Urteil in Sicht sei. Diesem Beschluss musste das Landgericht folgen. Die sieben erwachsenen Angeklagten hingegen bleiben weiter in Haft.

Erfreut zeigte sich der Verteidiger der drei jungen Somalis. Er teilte mit, sie lebten nun in einer betreuten Wohneinrichtung, hätten sich nach ihrer Freilassung »prächtig entwickelt«, seien freundlich und hätten Freude am Leben. Sie gingen regelmäßig zur Schule und lernten Deutsch. Einer wolle seinen Schulabschluss und eine Ausbildung machen, vermutlich als Elektriker oder Schweißer – auch wenn sein Traumberuf Pilot sei. Von Deutschland aus wolle er seine Geschwister in Somalia unterstützen und damit eine Art »Aufbauhilfe« für sein Land leisten.

Angesichts dieser Wendung lobte der Anwalt auch das Gericht. Es habe »mit außerordentlicher Akribie und Geduld« die Beweisaufnahme betrieben. Es sei ein »außerordentlich faires Verfahren«. »Das Gericht hat sich wahnsinnig viel Mühe gegeben, die Hintergründe der Piraterie zu ergründen.«

Die Öffentlichkeit hingegen stellt die Frage nach dem Sinn eines solchen Gerichtsverfahrens und der abschreckenden Wirkung auf ostafrikanische Piratenbanden. Rechtsexperten vertreten die Ansicht, festgenommene Seeräuber sollten sich vor Gerichten der Region verantworten müssen. Das war anfangs auch so, indem man sie an Kenia überstellt hatte. Doch mittlerweile hat der ostafrikanische Staat das entsprechende Abkommen gekündigt. Es war juris­tisch ohnehin umstritten. Auch Verhandlungen mit Nachbarländern waren bisher erfolglos.

Für die Soldaten der Bundeswehr, die sich mit mehreren Schiffen an der europäischen Anti-Piraterie-Mission Atalanta beteiligt, herrscht damit starke Rechtsun­sicherheit. Darauf reagierten sie beispielsweise, indem sie Festgenommene ärztlich ­untersuchen ließen, ihnen Mineralwasserflaschen in die Hand drückten und sie an Land absetzten, nachdem sie ihre Boote zerstört hatten. Vor deutschen Piratenjägern, so spotten Bundeswehrinsider, haben diese Männer in Zukunft keine Angst mehr.
Eigel Wiese