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Die Hochseeinsel in der Nordsee entwickelt sich zum Servicestandort für die Offshore-Windindustrie. Die HANSA wird diese Entwicklung ein Jahr lang mit monatlichenBeiträgen zu unterschiedlichen Themen begleiten.

In einer Herbstnacht Ende Oktober kommt ein weißer Container im Binnenhafen von Helgoland an. Der Ver- und Entsorgungsfrachter »Björn M[ds_preview].« hat ihn aus Wischhafen mitgebracht. In seinem Inneren befindet sich eine voll ausgerüstete Werkstatt zur Fertigung von hydraulischen Schlauch­leitungen. Früh am nächsten Morgen wird der Container des Hydraulikdienstleisters Hansa-Flex quer über die Insel zum Gelände der örtlichen Versorgungsbetriebe transportiert, wo er sein neues Zuhause findet. Seitdem ist er ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Offshore-Windenergie Einzug auf Helgoland hält. Eines von vielen.

Offshore-Wind sorgt für Aufbruchstimmung

Es tut sich etwas auf dem Eiland, das als Deutschlands einzige »Hochseeinsel« bekannt ist – auch wenn sie sich juristisch gesehen nicht im Bereich der »hohen See« befindet. Seit mit Eon Climate & Renew­ables, RWE Innogy und WindMW die Betreiber aller drei Meereswindparks im so­genannten Helgoland-Cluster zugesagt haben, das kleine Stück Land in der Nord­see als Offshore-Ser­vicestützpunkt nutzen zu wollen, herrscht Aufbruchstimmung. Die Gemeinde saniert derzeit mit finanzieller Unter­stützung Schleswig-Holsteins das Südhafengelände, auf dem die Betreiber­firmen ab März kommenden Jahres ihre Suprastruktur errichten wollen.

In der Hoffnung auf neue Geschäftsfelder haben schon mehrere Unternehmen aus der maritimen Branche Filialen auf der Insel eröffnet: Neben Schiffsdieseltechnik Kiel (SDT), die zur Wartung und Reparatur von Dieselmotoren jetzt auf den neuen Werkstattcontainer zurückgreifen kann, stellen auch die Schramm Group und die Linnhoff-Gruppe seit einiger Zeit Ansprechpartner vor Ort zur Verfügung. Da­rüber hinaus haben sich bereits verschie­dene Joint Ventures zusammengefunden. So kooperieren SDT und Schramm im Tech­nischen Schiffsservice Helgoland (TSH), Schramm hat zudem mit WPD Offshore und der Deutschen Windtechnik den Logistikdienstleister All for Offshore gegründet, und Linnhoff arbeitet mit Kühne + Nagel sowie CHS Container Handel als Offshore Service Partners zusammen.

Bürgermeister Jörg Singer rechnet durch die Ansiedlung der Offshore-Windbranche langfristig mit 150 neuen Arbeitsplätzen und bis zu 40 neuen Einwohnern. »Wir haben hier die große Chance, neben den beiden Schwerpunkten Tourismus und Forschung ein drittes wirtschaftliches Stand­bein aufzubauen«, sagt der frühere Unter­nehmensberater (siehe auch Interview auf S. 48f.), der die aktuelle Entwicklung der Insel gerne als »Helgoland 3.0« bezeichnet. »1.0« ist nach dieser Rechnung die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, in der sich die Insel als Forschungsstandort und als hochwertig-mondänes Seebad präsentierte. »2.0« begann in den 1960er-Jahren, als sich Helgoland auch dank zollfreier Einkaufsmöglichkeiten zum beliebten Ziel für Tagestouristen entwickelte, wobei das Image vom »Fuselfelsen« entstand. »3.0 ist für mich eine Kombination aus 1.0 und den aktuellen gesellschaftlichen Möglichkeiten und Herausforderungen«, erläutert Singer. »Es geht um eine modernere, wieder sehr europäische Ausrichtung und um die Kombination mehrerer Standbeine, die sich miteinander vertragen.«

Entwicklungskonzept für die Zukunft

Um das zu erreichen, hat die Gemeinde ein regionales Entwicklungskonzept (REK) erarbeitet, das insgesamt rund 80 Projekte beinhaltet – unter anderem zu Themen wie nachhaltiger Tourismus, finanzierbarer Wohn­raum, eigene Energieversorgung und Verkehrsanbindung. Angesichts der finanziell angespannten Lage werden zwar nicht alle davon in absehbarer Zeit umgesetzt werden können: Zumindest für die vielversprechendsten hat die Gemeindevertretung aber schon die nötigen politischen Beschlüsse gefasst. Dabei bindet aktuell der Ausbau zum Offshore-Servicestützpunkt die meisten Ressourcen, sowohl finanziell als auch zeitlich.

Besondere Relevanz für die gesamte Branche gewinnt der Standort dadurch, dass hier auf engstem Raum praktisch alles zu beobachten sein wird, was auch für andere Windpark-Projekte von Bedeutung ist. Ob es um den offshore-gerechten Ausbau einer Hafenanlage geht oder um das Testen unterschiedlicher Logistikkonzepte, Sicherheitsfragen oder die Unterbringung von Servicepersonal fernab vom Festland: Von den hier gemachten Erfahrungen werden auch andere Marktteilnehmer profitieren können. Die HANSA wird die Entwicklung auf Helgoland darum in den kommenden zwölf Monaten begleiten und in jeder Ausgabe einen neuen Aspekt beleuchten.

Vom Schmugglernest zurTouristenhochburg

Ein Rückblick zeigt, dass die Insel eine sehr wechselvolle Geschichte hat und sich schon mehrfach neu erfinden musste, um überlebensfähig zu bleiben. Nach dem Aufstieg zu einem bedeutenden Fischereistandort im späten Mittelalter unterstand sie ab 1714 zunächst der dänischen Krone, bevor sie 1807 von britischen Truppen besetzt und als Kolonie dem Vereinigten Königreich eingegliedert wurde. Ein Jahr zuvor hatte Napoleon im Kampf um die Vorherrschaft in Europa eine Kontinentalsperre gegen England verhängt, woraufhin sich der rote Felsen zu einem begehrten Schmuggelplatz entwickelte. Die Briten ergriffen die Möglichkeit, jenseits der Blockadelinie die Sperre zu umgehen, und schlugen von hier aus die unterschiedlichsten Güter um. Bis zu 400 Schiffe liefen täglich ein und aus, der Handel boomte. Allerdings nur für einige Jahre, denn ab 1814 konnten die Waren wieder frei fließen und das Vereinigte Königreich war nicht mehr auf seinen Stützpunkt in der Nordsee angewiesen. Britisch blieb die Insel dennoch.

Traditionell hatten viele Inselbewohner auch als Lotsen gutes Geld verdient, doch dank verbesserter Seekarten gingen die Einnahmen deutlich zurück. Nun drohte Armut – bis der Insulaner Jacob Andresen Siemens 1826 auf die Idee kam, ein Seebad zu gründen. Fortan wurde Helgoland zum beliebten Reiseziel für Intellektuelle und Adelige, Hoffman von Fallersleben dichtete hier 1841 während eines Ferienaufenthalts das Deutschlandlied.

Mit Abschluss des Helgoland-Sansibar-Vertrags ging die Insel schließlich 1890 an das Deutsche Reich über. Aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage ließ Kaiser Wilhelm II. sie zum Marinestützpunkt und zur Seefestung ausbauen, was das NS-Regime ab 1935 durch eine Erweiterung der militärischen Anlagen noch einmal forcierte. Durch das »Projekt Hummerschere« sollte hier ab 1938 ein riesiger Marinehafen entstehen: Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde dieses Vorhaben allerdings abgebrochen.

Kurz vor Ende des Krieges verübte die britische Luftwaffe am 18. April 1945 einen verheerenden Luftangriff, bei dem in weniger als zwei Stunden 7.000 Bomben abgeworfen wurden. Ein Großteil der Bewohner überlebte in den ausgedehnten Bunkeranlagen, doch die Insel wurde unbewohnbar und musste evakuiert werden.

Auf den Tag genau zwei Jahre später zerstörten die Briten mit der bis heute größten nichtnuklearen Sprengung der Geschichte, für die 6.700 t Sprengstoff benutzt wurden, militärische Anlagen. Doch die Insel trotzte der gewaltigen Detonation dieses »Big Bang«: Seither hat sie nicht nur ein Ober- und ein Unterland, sondern auch ein Mittelland, das aus dem Material der gesprengten Südspitze entstand. Der Zivilschutz­bunker blieb verschont und kann bis heute besichtigt werden. Und noch immer sind große Teile der Inselfläche stark mit Kampfmitteln belastet – auch, weil die Alliierten Helgoland einige Jahre lang als Übungsplatz für Bombenabwürfe nutzten.

Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach der Rückgabe an Deutschland 1952 konnte die Wiederbesiedlung beginnen. Schnell entwickelte sich der Tourismus in der amtsfreien Gemeinde des Kreises Pinneberg zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor: Nicht zuletzt wegen der Zoll- und Steuerbefreiung waren die Insel und ihr Wahrzeichen »Lange Anna« vor allem bei Tages­gästen sehr beliebt. In der Hochzeit der 1960er- und 1970er-Jahre kamen jedes Jahr 800.000 von ihnen zur Stippvisite. Heute sind es noch 300.000, was laut Bürgermeister Singer unter anderem auch auf Billig­angebote anderer Reiseregionen zurück­zuführen ist. Ebenso ist die Zahl der Einwohner von einst 3.000 auf die Hälfte geschrumpft, wobei seit zwei Jahren immerhin ein leichter Aufwärtstrend zu erkennen ist. Zudem setzt die Gemeinde seit einiger Zeit verstärkt auf hochwertigen und nachhaltigen Tourismus, was bereits sichtbare Erfolge nach sich zieht: So ist die Zahl der Übernachtungsgäste seit 2006 um 25 % gestiegen.

Zweites Standbein der Insel ist die Forschung. Schon 1892 wurde die »Königlich Preußische Biologische Anstalt« gegründet, die seit 1998 dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) angehört und meeresbiologische Studien betreibt. Mit rund 100 Mitarbeitern ist sie derzeit der größte Arbeitgeber Helgolands, Tendenz steigend. Innerhalb der Biologischen Anstalt wurde 1910 das Institut für Vogelforschung gegründet, das mittlerweile seinen Hauptsitz in Wilhelmshaven hat. Die Vogelwarte auf dem Helgoländer Oberland leistet jedoch noch immer wertvolle Arbeit bei der Erforschung des Vogelzugs, der unter anderem Rückschlüsse auf den Klimawandel zulässt.

Für überregionale Aufmerksamkeit in den Medien sorgten voriges Jahr die Pläne eines Hamburger Bau­unternehmers, die Haupt­insel durch Landaufschüttungen mit der etwa 1 km entfernten Nebeninsel Düne zu verbinden und dadurch gut 100 ha neues Land zu gewinnen. Am 26. Juni 2011 lehnte allerdings eine Mehrheit der Helgoländer diese Pläne ab. Das größte Bauprojekt der Insel bleibt daher vorerst der Ausbau des Südhafengeländes zum Reaktionshafen für die Offshore-Windbranche. Was dort konkret passieren soll und wie der aktuelle Stand ist, wird die HANSA in der nächsten Ausgabe näher beleuchten.
Anne-Katrin Wehrmann