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Ob Reisevorbereitung, Brückenorganisation oder Kommunikation – seemännische Traditionen bei der Schiffsführung, die vor Jahrhunderten entstanden, haben nach wie vor ihren Wert. Kapitän Hans-Hermann Diestel bedauert, dass dies nicht jeder so sieht
Als die HANSA am 3. Januar 1864 zum ersten Mal erschien, existierten weder der Norddeutsche Bund noch das Deutsche Reich[ds_preview]. Dessen ungeachtet übernahm die Zeitschrift mit folgenden Worten die Aufgabe, für alle deutschen Seeleute zu sprechen und ihnen zu helfen: »Sie sei das Organ, durch welches die Kenntnisse, das Wissen und die Erfahrungen des Einzelnen den Fachgenossen mitgetheilt und für das gesammte deutsche Seewesen nutzbar gemacht werden.« Aus jenen Jahren stammen seemännische Traditionen, die bewahrt werden sollten. Sie betreffen die Reisevorbereitung, die Navi­gation und die Brückenorganisation. Ob sie bewahrt wurden, soll im Folgenden untersucht werden.

Entwicklung und Qualität der Besatzungen

Wenn die Entwicklung der Seemannschaft für diesem Zeitraum erörtert wird, kann der Ausgangspunkt dafür nur die Bewertung der Ausbildung, Struktur und Qualität der Besatzungen sein. Über Jahrhunderte hätte ein Seemann problemlos lange Zeiträume überspringen und trotzdem seine Arbeit an Bord eines Schiffes in kürzester Zeit ausführen können.

In den vergangenen 150 Jahren hat sich die Welt der Schifffahrt derart verändert, dass dies nicht mehr möglich ist. Die massiven Veränderungen haben dazu geführt, dass ganze Berufsgruppen wie Segelmacher, Schmied, Zimmermann und Funker verschwunden sind. Andere wie Arzt und Purser existieren nur noch in der Passagier- oder Fährschifffahrt.

Der technische Fortschritt und die damit einhergehende Spezialisierung in der Schifffahrt erfordern auf die verschiedenen Bereiche zugeschnittenes Wissen und entsprechende Erfahrung. Die Ausrüstung auf der Brücke hat ein Niveau erreicht, dass bei gekonnter Nutzung der Technik die sichere Führung des Schiffes jederzeit gewährleistet werden kann. Die entscheidende Frage dabei ist: Konnten die Besatzungen diesem Fortschritt folgen?

Das ist offensichtlich in weiten Bereichen der Schifffahrt nicht der Fall. Seeunfälle wie die der »Finnbirch«, »Rena«, »Costa Concordia« usw. belegen dies eindrucksvoll. Damit wird deutlich, dass die Schifffahrt, im Gegensatz zur Luftfahrt, u. a. das intellektuelle Niveau der Seeleute nicht im erforder­lichen Maße angehoben hat und darüber hinaus traditionelle Stärken wie Disziplin und Verantwortungsbewusstsein schwächer geworden sind. Die Gründe dafür sind vielfältig. Genannt werden sollen:

• Unverändert suchen Menschen in der Schifffahrt einen Ausweg aus der Armut. 1961 hatte Aristoteles Onassis die Hoffnung ausgedrückt, dass dies bald vorbei sein sollte. Die vielen Seeleute von den Philippinen, aus Myanmar, China, Indonesien und dem Südpazifik belegen, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist. Diese Seeleute stammen oft aus Ländern mit unzureichendem Bildungssystem und aus einer Bevölkerung mit geringer oder keiner Bindung zur traditionellen westlichen Schifffahrt.

• In der Schifffahrt ist die Globalisierung der Besatzungen seit Jahrhunderten ein Fakt. So heuerten Mecklenburger See­leute früher häufig auf skandinavischen Schiffen und skandinavische Seeleute auf Mecklenburger Schiffen an. Die HANSA (15/1905) berichtete, dass im Jahr 1904 insgesamt 4.087 Deutsche auf amerikanischen Schiffen eine Beschäftigung gefunden hatten. Und die Seeberufsgenossenschaft teilte 1971 mit, dass auf deutschen Schiffen 12.373 ausländische Seeleute angemustert seien.

Die Schifffahrt müsste deshalb über eine unvergleichliche Erfahrung in der Zusammenführung von Seeleuten aus un­terschiedli­chen Kulturen und Traditionen verfügen. Das tut sie aber nicht. Sie hat nicht die dafür erforderlichen Voraussetzungen und Strukturen geschaffen. Etwas weiter auf diesem Weg könnte die Kreuzschifffahrt sein. Gelegentlich nimmt die eine oder andere Geschäftsführung oder auch Einzelperson mit dem entsprechen­den Hintergrund (Kapitän) diese Aufgabe über Sonntagsreden hinaus ernst. Das ist definitiv zu wenig.

• Probleme, wie sie in der HANSA (39/1891, »Ueber Schiffer und Mannschaft«) mit un-­

zureichender Kommunikation zwischen Kapitän und Besatzung beschrieben wurden, sind durchaus nicht überwunden.

• Über Jahrzehnte ist in der HANSA über die Notwendigkeit der Segelschiffsaus­bildung für Offiziere und Mannschaften gestritten worden. Diese Auseinandersetzungen fanden mit dem Untergang der »Pamir« ihr längst überfälliges Ende. Der Autor sieht durchaus die Vorteile einer solchen Ausbildung, aber sie ist in der heutigen Struktur der Nautikerausbildung kaum unterzubringen. Aida Cruises ist eine Ausnahme, denn das Unternehmen bietet den nautischen und technischen Auszubildenden und Studierenden seit 2011 eine zwei- bis vierwöchige Grundausbildung auf der »Großherzogin Elisabeth« an. Das ist eine noble Idee, die jedoch wegen der Kürze der Zeit und der heute üblichen Vorsicht nicht viel bewegen wird.

Die Überlegungen müssen eher dahin gehen, wie ohne Segelschiffsausbildung die angestrebten Ziele – physische und psychische Fitness, Vertrautheit mit dem Wetter, Disziplin, Teamgeist und Verantwortungsbewusstsein – erreicht werden. Gerade in diesen Bereichen sind immer größere Defizite festzustellen, weil der Schwerpunkt aller Überlegungen in den vergangenen Jahrzehnten, die das System Mensch–Maschine betrafen, vor allem auf die Maschine gerichtet waren.

Der Kapitän der 2006 gesunkenen »Finnbirch« etwa war, wie auch andere durch die schwedischen Behörden befragten Kapitäne, nicht mit den Gefahren des Fahrens vor achterlicher See vertraut. Die Anzahl der Personenunfälle, die zu verzeichnen sind, weil das Schiff entweder die offene See erreicht hat, bevor es seeklar ist, oder weil Besatzungsmitglieder ungesichert an Deck gehen, ohne dass Kurs und Geschwindigkeit des Schiffes in der schweren See für die vorgesehene Aktion im erforderlichen Umfang angepasst wurden, ist unverändert hoch. Beispiele dafür sind die Seeunfälle der »Johann Schulte«, »FR8 Venture«, »Cap Egmont« und »Chicago Express«. Auf diesen Schiffen fehlte entweder lebenswichtiges seemännisches Wissen oder es ist vor allem die Reisevor­bereitung unverantwortlich oberflächlich ausgeführt worden.

• Weitere Probleme sind: Die Struktur und Zusammensetzung der Besatzungen, Arbeits- und Lebensbedingungen für die Seeleute, nicht zielgerichtete, weil ohne gründliche Analyse organisierte Aus- und Weiterbildung usw.

Wenn diese Probleme nicht gelöst werden, ist jede Erörterung des Systems Mensch–Maschine intellektuelle Spielerei, wird die Verweildauer der Kapitäne und nautischen Offiziere in der Schifffahrt nicht das erforderliche Niveau erreichen, gibt es kein Fundament für eine »nachhaltige« Brückenorganisation und Leitungstätigkeit.

Wenn unter Crew Resource Management die Lösung dieser Probleme verstanden werden würde, würde dieser Begriff endlich mit Leben erfüllt werden. Der Autor ist auch davon überzeugt, dass Crew Resource Management in der Schifffahrt durch die speziel­len Arbeits- und Lebensbedingungen auf ei­nem Schiff wesentlich komplexer ist als in der Luftfahrt und seine Etablierung deshalb größere Ressourcen verlangt.

Weiterbildung

Eine ständige und fundierte Weiterbildung der Kapitäne und nautischen Offi­ziere ist die Voraussetzung für eine sichere seemännisch-nautische Schiffsführung, weil angehende Nautiker von maritimen Bildungseinrichtungen unterschiedlichen Niveaus sowie aus unterschiedlichen Kulturen kommen und darüber hinaus die technische Entwicklung in der Schifffahrt in hohem Tempo verläuft. Für die Aus- und Weiterbildung der Kapitäne und nautischen Offiziere sind die maritimen Bildungseinrichtungen, Schifffahrtsunternehmen und der Einsatz auf den Schiffen wichtig.

Über Niveau, Struktur und Aufgaben der Seefahrtschulen ist in den anderthalb Jahrhunderten der HANSA heftig gestritten worden. H. Schmidt schrieb 1920: »Es muß dahingestrebt werden, daß der Lehrplan der Seefahrtschulen mehr ausgebaut wird; denn jeder Nautiker macht im praktischen Leben die Erfahrung, daß in seinem Wissen große Lücken geblieben sind.«(H. Schmidt: Reform des nautischen Unterrichts und der Seefahrtschulen, HANSA, Dez. 1920, S. 1065ff.) J. Pohl äußerte vier Jahre später eine andere Auffassung zum Unterricht der Seefahrtschulen. Er erläuterte: »Ich beabsichtige nicht, etwa einen Abbau des Unterrichts auch nur im leisesten zu propagieren, sondern was mir vorschwebt, ist die Umstellung des Unterrichts mehr als bisher von der reinen Wissenschaft auf die Bedürfnisse der Praxis in einer Form, die es auch dem normalen Volksschüler ermöglicht, dem Unterricht zu folgen.«(Pohl: Gedanken zur Ergänzung und Ausbildung des Nachwuchses nautischer Schiffsoffiziere, HANSA, Sept. 1924, S. 1094ff.)

Es dürfte nur wenige überraschen, dass der Autor den Auffassungen von H. Schmidt folgt. Dabei geht es nicht darum, dass das gesamte derzeitige Wissen für eine sichere Führung eines Schiffes vollständig vermittelt wird. Es ist aber unabdingbar, dass die Absolventen die maritime Bildungseinrichtung mit den für ihre außerordentlich anfordernde Aufgabe – Führung von Schiff und Besatzung – erforderlichen Grundsätzen wie Disziplin, Verantwortungsbewusstsein,

Lernbereitschaft usw. verlassen. Eine Seefahrtschule, zu deren Aufgaben die Erziehung (»jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklung fördern«(Duden. Das Herkunftswörterbuch: Etymologie der deutschen Sprache, 4. Auflage, 2007.)) nicht gehört, wird ihrer Aufgabe nicht gerecht. Sind die geforderten Voraussetzungen gegeben, werden die Nautiker mögliche Lücken im Wissen schnell schließen können.

Davon unabhängig sollte bei den mari­timen Bildungseinrichtungen die deutsche Kleinstaaterei überwunden und der 1990 gemachte Fehler, als die Hochschule für Seefahrt in Warnemünde aufgelöst wurde, korrigiert werden. Sowohl Fachschule, Fachhochschule und Hochschule hätten bei dem bisherigen Niveau der deutschen Schifffahrt ihre Berechtigung. Diesen Bestrebungen dient es nicht, dass der ehemaligen Hochschule ihre Bibliothek genommen wurde. Gerade weil das intellektuelle Niveau in der Schifffahrt unzureichend ist, sollte die Bibliothek einer Seefahrtschule ein hohes Niveau haben. Der Autor hat als Student in Wustrow die Bestände mit den Ausgaben der HANSA oder den Entscheidungen der Kaiserlichen Seeämter zu schätzen gewusst. Sie sind für ihn bis heute unverzichtbar. Die Universität Rostock sollte die von der Hochschule für Seefahrt übernommenen Bibliotheksbestände zurückgeben.

Die Bundesrepublik hat sich bisher nicht, wie die DDR, dazu durchringen können, Nautiker und Techniker alle fünf Jahre zu einer damals »IMO-Lehrgang« genannten Weiterbildungsmaßnahme an eine Seefahrtschule zu schicken. Durch sie wurden die Nautiker mit grundsätzlichen Neuerungen auf Gebieten wie Navigation, Seerecht usw. vertraut gemacht.

Solche Lehrgänge würden den Umfang der durch Reedereien zu organisierenden Weiterbildung verringern, aber nicht überflüssig machen, da diese sich an den Erfordernissen der Reederei oder des Managementunternehmens orientieren muss. Um diese Erfordernisse zu erkennen, muss das Management bereit sein, mittels einer realistischen Analyse mögliche Defizite herauszufinden. Diese Bereitschaft war nicht in allen Unternehmen vorhanden, mit denen der Autor in den letzten drei Jahrzehnten zusammengearbeitet hat.

Die 2010 beschlossenen Manila-Änderungen zur STCW 95 für eine intensivierte Sicherheitsgrundausbildung sowie verbesserte Kompetenzen zur Nutzung von ECDIS weisen den richtigen Weg, sie werden aber durch verringerte Ausgaben der Unternehmen für die Weiterbildung in der gegenwärtigen Krise konterkariert. Wird jedoch eine auf den herausgefundenen Mängeln, Schwächen und Fehlern beruhende Weiterbildung etabliert, führt sie unweigerlich zu einer die Schiffssicherheit verbessernden nautisch-seemännischen Schiffsführung.

Der Autor konnte beobachten, dass in Unternehmen, in denen dieser systematische Weg nicht gegangen wurde, ungeachtet des Einsatzes erheblicher finanzieller Mittel, die getroffenen Maßnahmen die Situation in der Flotte nicht verbesserten. Die in den Unternehmen aufgetretenen Seeunfälle, welche die Qualität der Seemannschaft der beschäftigten Nautiker dokumentierten, machten große Schwächen in Reise- ­vorbereitung, Navigation, Kollisionsverhütung und Brückenorganisation, einschließlich der Teamarbeit sowie Kommunikation, deutlich. Sie abzustellen muss die vordringlichste Aufgabe der Weiterbildung sein.

Während die von Reedereien organisierte Weiterbildung erst in den vergangenen Jahrzehnten in der HANSA ihren Niederschlag findet, wird die Rolle des Kapitäns von Anfang an thematisiert. Pohl formuliert seine Anforderung so: »[Daher] heißt meine Anregung: Auffüllen etwaiger Lücken in der Vorbildung des Steuermannschülers durch eine gründlichere Ausbildung während der Steuermannsfahrzeit … Allerdings wird viel davon abhängen, wie die älteren Berufskollegen sich zu dem jungen Steuermann stellen …«(a.a.O.)

Die Weiterbildung und Erziehung der nautischen Offiziere war Bestandteil der Leitungstätigkeit des Autors auf den Schiffen der Deutsche Seereederei (DSR). Auch wenn dies in den entsprechenden Gesetzen der DDR und in der Dienstordnung der DSR(Bruno Jenssen (Hg.): 50 Jahre Deutsche Seereederei Ros­tock. Beiträge zur Entwicklung und Transformation der Handelsschifffahrt der DDR, Schriften des Schiffahrtsmuseums der Hansestadt Rostock, Band 9.) festgelegt war, ging er dessen ungeachtet davon aus, dass er damit einer Tradition der deutschen Schifffahrt folgte.

Wenn es diese Tradition wirklich gegeben hat, ist heute nicht mehr viel davon zu spüren. Als Designated Person Ashore (DPA) musste der Autor Kapitäne ermahnen, z. B. mit dem Ersten Offiziere zusammenzuarbeiten, junge Offiziere nicht von der Navigation auszuschließen und sie anzuleiten (siehe z. B. die Grundberührung der »Contship Har­mony« in der Tiran-Straße (Seeamt Bremerhaven: Untersuchung über die Kollision des MS »Contship Harmony« mit einem Wrack und einem Korallenriff in der Tiran-Straße im Golf von Aqaba am 14. August 1999.)). Bei Hamburger Reedereien, mit denen er zusammenarbeitete, wurde immer wieder Klage darüber geführt, dass die Kapitäne sich weigerten, ihren unverzichtbaren Anteil an der Ausbildung der Kadetten zu leisten. Die Frage an diese Kapitäne ist und bleibt: Woher sollen brauchbare nautische Offiziere kommen, wenn die Kapitäne sich nicht an deren Aus- und Weiterbildung sowie Erziehung beteiligen?

Daher sollte vor allem die Aus- und Weiterbildung der Kapitäne und Offiziere zu fähigen Leitern verbessert werden. Dabei spielt die Erziehung in allen drei Bereichen eine wesentliche Rolle. Nelson Mandelas Worte geben den erforderlichen Kurs vor: »Education is the most powerful weapon you can use to change the world.«

Navigation und Kollisionsverhütung

Kernstück der nautisch-seemännischen Schiffsführung sind und bleiben Navigation und Kollisionsverhütung. Über Mängel in beiden Bereichen hat die HANSA in allen Jahrgängen berichtet. 1935 spricht Johannes Müller in einem Beitrag (Johannes Müller: Nautik 1934, HANSA, Januar 1935, S. 70ff.) zwei Grundsätze der Navigation an. Erstens: »Solange die Seefahrt betrieben wird, ist das Loten zur Feststellung des Schiffsortes in Gewässern mit kleinen und mittleren Wassertiefen ein altes Gebot, das nicht genug beachtet werden kann.« Dieser Grundsatz galt über Jahrhunderte. Der zweite Grundsatz führt schon in die Gegenwart: »Der Erleichterung der Navigation und der Erhöhung der Sicherheit der Schiffahrt dienen die Hilfsmittel der technischen Navigation, wie Echolot, Unterwasserlot, Unterwasserschallsignale, Funkpeiler, Kreiselkompaß und Fahrtmesser, welche mit Recht immer mehr entwickelt und verwendet werden.«

Heute stehen jederzeit ausreichend si­chere Mittel und Methoden zur Navigation und Kollisionsverhütung zur Verfügung. Das größte Problem bei der Führung des Schiffes besteht in der Gegenwart darin, dass der Wachoffizier die jeweils effektivs­te Methode auswählen muss und er bei den vielfältigen Kombinationsmethoden von GPS, Radar, AIS und ECDIS den Überblick behält. Er muss einschränken, Wesentliches von Unwesentlichem trennen, und er muss auswählen können.

Die Untersuchungen von Seeunfällen zeigen, dass zu viele Nautiker mit dieser Aufgabe überfordert sind und dadurch das ihnen anvertraute Schiff mit seiner Besatzung und möglichen Passagieren gefährden. Das Radar ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil der Schiffsführung, und die Nautiker werden seit langem systematisch als Radarbeobachter geschult. Trotzdem ist ein großer Teil von ihnen z. B. nicht in der Lage, die Vor- und Nachteile des X- oder S-Bands zu benennen. Selbst auf Schiffen von Unternehmen, die einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand bei der Aus- und Weiterbildung ihrer Nautiker betreiben, werden elementare Fehler beim Einsatz des Radars begangen. Als beispielsweise die »Hanjin Gothenburg« im September 2007 mit der »Chang Tong« kollidierte, wurde das Radar bei einer Annährungs­geschwindigkeit von 38 kn vom Wachoffizier im 6-sm-Bereich genutzt (Bundesstelle für Seeunfalluntersuchung (15. September 2008): Untersuchungsbericht 450/07, Kollision des CMS »Hanjin Gothenburg« mit dem MS »Chang Tong« am 15. September 2007 in der Bohai-Meerenge / VR China.).

Ein weiteres, seit Jahrzehnten nicht gelöstes Problem ist die Kommunikation zwischen Schiffen, bei denen die Gefahr einer Kollision besteht. Genannt seien hier etwa »Sonneberg« / »Grobnik« (vor Brunsbüttel), »Mineral Dampier« / »Hanjin Madras« und »Hyundai Dominian« / »Sky Hope«. ( Hans-Hermann Diestel: Compendium on Seamanship & Sea Accidents, Seehafen Verlag, Hamburg, 2005.) Anstatt sich auf die Verhinderung der Kollision aufgrund der Kollisionsverhütungsregeln zu konzentrieren, wird endlos und ergebnislos gesprochen. Es werden sogar die KVR (Kollisionsverhütungsregeln) verletzende Absprachen getroffen (»Admiral Nakhimov«). Der Wachoffizier der »Hyundai Dominian« (Marine Department Hong Kong / MAIB (August 2005): Report on the investigation of the collision between »Hyun­dai Dominion« and »Sky Hope« in the East China Sea, 21 June 2004.) versuchte sogar über die freie Text­eingabe des AIS mit dem späteren Kollisionsgegner zu kommunizieren.

Es ist offensichtlich, dass die Wachoffiziere dieser und anderer Schiffe selbst einfache und unverzichtbare Mindestanforderungen an die Funktion des Wachoffiziers nicht erfüllten. Wie sollen sie dann in der Lage sein, die durch GPS, Radar, AIS und ECDIS gebotenen Möglichkeiten sinnvoll zu nutzen? Sie sind nicht fähig, die sprachlich und inhaltlich einzigartige Definition der Navigation aus »The American Practical Navigator« zu erfüllen: »Marine navigation blends both science and art. A good navigator gathers information from every available source, evaluates this information, determines a fix, and compares that fix with his pre-determined ›dead reckoning‹ position. A navigator constantly evaluates the ship’s position, anticipates dangerous situations well before they arise, and always keeps ›ahead of the vessel‹. The modern navigator must also understand the basic concepts of the many navigation systems used today, evaluate their output’s accuracy, and arrive at the best possible navigational decisions.« (The American Practical Navigator: An Epitome of Navigation, 1995 Edition.)

Wenn die Nautiker die in dieser Definition formulierten Anforderungen zu befolgen in der Lage wären, und dies dann auch täten, könnten die meisten Grundberührungen und Strandungen vermieden werden.

Brückenorganisation und Führungstätigkeit

In der Gegenwart wird auch im Zusammenhang mit der Schiffsführung und Brückenorganisation der inflationär eingesetzte Begriff »nachhaltig« zunehmend verwendet. An dieser Entwicklung beteiligte sich der Autor (HANSA 7/2013, Nachhaltige Brückenorganisation). Wie wenig »nachhaltig« sich die Brückenorganisation und Leitungstätigkeit in den 150 Jahren der Existenz der HANSA entwickelt hat, beweisen gerade die in ihr veröffentlichten Berichte.

Bevor der Autor sich der Entwicklung in beiden Bereichen zuwendet, sei darauf hingewiesen, dass beide, wenn sie den Anforderungen ihrer Zeit entsprechend ausgeübt werden sollen, einige Voraussetzungen erfordern. Dazu gehören die Reisevorbereitung (HANSA 09/12), die Ständige Wachorder (HANSA 09/13), die Kommunikation (HANSA 03/11) und Navigation.

Die vielleicht wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Brückenorganisation, für die der Autor den englischen Begriff Bridge Resource Management (BRM) für angemessen hält, ist eine Leitungstätigkeit, die eine effektive Brückenorganisation überhaupt erst erlaubt. Leitungstätigkeit ist eine der Disziplinen, die in der Schifffahrt nie so recht ernst genommen worden ist. Das spiegelte sich in der Ausbildung wieder.

Unterrichtet wurde der Autor während seines Studiums vom A3 zum A6 in den Jahren 1965–1967 in Wustrow in diesem Fach zuerst vom damaligen Direktor der Schule. Er versuchte, den Studierenden seine Auffassungen mit gelegentlichem Brüllen und darauffolgendem Flüstern beizubringen. Diese Methode führte dazu, dass man weder den Direktor noch das Fach ernst nehmen konnte. Das änderte sich mit den Vorlesungen des Dozenten Rolf K. Günther, der sehr hohe Anforderungen an das Verhalten und Auftreten eines Offiziers und Kapitäns formulierte. Trotz der jetzt interessanten Vorlesungen hatte der Autor den Eindruck, dass viele seiner Kollegen dieses Fach nicht besonders schätzten.

Dabei hatte die Schifffahrt seit langem guten Grund, dies zu tun. In der HANSA wurden in dem 1891 erschienenen Beitrag »Ueber Schiffer und Mannschaft« den Kapitänen bis heute gültige und leider immer noch wenig beachtete Hinweise zur gesunden Ernährung, zur Schädlichkeit eines langen Mittagsschlafes sowie zum Zusammenleben der Besatzung gegeben. Zum letzteren Problem das folgende Zitat: »Auf vielen Schiffen ist es Sitte, dass die Steuerleute und Maschinisten in einem Messraum zusammen, der Capitän dagegen allein ist. Dieses Alleinsein des Schiffers ist oftmals eine Grundlage für alle seine körperlichen Leiden …« Vor allem Kapitäne aus Osteuropa folgen selbst dann noch diesem Brauch, wenn die Reederei sich nachdrücklich dagegen ausspricht.

Eine andere Variante, die der Autor auf einem Hamburger Feederschiff vorfand, ist, dass Kapitän und Offiziere aus Osteuropa sich gegen den Rest der Besatzung abschotteten, worauf diese in gleicher Weise antwortete. Ein solches Verhalten hatte zu allen Zeiten negativen Einfluss auf die nautisch-seemännische Schiffsführung. Die HANSA (30/1905) berichtet unter der Überschrift »Über Mißhelligkeiten an Bord als Ursache einer Strandung« mit folgenden Worten darüber: »Der ›Irrtum‹ über den Schiffsort ist dadurch verursacht …, daß dem Kapitän vom I. Offizier und II .Offizier aus persönlichen Motiven nicht die erforderlichen Meldungen erstattet worden sind … Aus dem Beweismaterial geht hervor, daß zwischen Kapitän und Offizieren ein sehr gespanntes Verhältnis bestanden habe.«

Wenige Jahre darauf beschreibt die Zeitschrift (32/1908) den Untergang des Dampf­ers »Laeisz«. Es hieß in dem Bericht, dass der Kapitän die nautischen Offiziere nicht in die Navigation einbezogen hatte. Sie gewannen so den Eindruck, der Kapitän empfinde jede Einmischung in seine Selbstherrlichkeit als Anmaßung. Deshalb hatte sie sich nicht mehr um die Navigation gekümmert und alles dem Kapitän überlassen.

Diese Verhaltensweisen sind durchaus nicht überwunden (siehe »Contship Har­mony«). Der Autor ging als DPA Beschwerden von Junioroffizieren nach, die ihrem Kapitän das gleiche Verhalten vorwarfen. Der Autor kam zu dem Schluss, dass sie recht hatten. Da der Kapitän weitere Schwächen in der Führungstätigkeit aufwies, wurde ihm kein neuer Kontrakt angeboten. Die unakzeptable Verhaltensweise war durchaus kein Einzelfall.

Zusammenfassung

In allen angesprochenen Bereichen der Seemannschaft gab es in der Schifffahrt einzigartige Beispiele von Kapitänen und Offizieren, die Seemannschaft und Führungs­tätigkeit vorbildlich handhabten. Bei der Reisevorbereitung, Navigation, Ernährung, Kommunikation und der Führungstätigkeit haben Kapitäne wie James Cook, Richard Woodget, Robert Hilgendorf und Gustav Schröder Vorbildliches geleistet. Ihre beispielhafte nautisch-seemännische Schiffsführung ist von zu wenigen ihrer Nachfolger erkannt und nachgeeifert worden. Das ist auch deshalb so, weil schon einmal vorhandene Traditionen für veraltet erklärt oder einfach vergessen und damit zum Nachteil der Seeleute verloren gegangen sind.

Ungeachtet der ständigen Verwendung solch modischer Begriffe wie »Leadership« ist die Seefahrt bei der Eta­blierung der unverzichtbaren Führungskompetenz als Teilbereich der Managementkompetenz nicht besonders vorangekommen. Das ist umso bedenklicher, als dass einerseits an die Qualität der Führung eines Schiffes immer höhere Ansprüche gestellt werden und andererseits die Kette des völligen Versagens des jeweiligen Leiters (Kapitän) nicht abreißt. Genannt seien nur einige der bekannteren Fälle wie der »Pamir«, »Torrey Canyon«, »Amoco Cadiz«, »Admiral Nakhimov«, »Al-Salam Boccaccio 98«, »Fedra«, »Rena« und »Costa Concordia«.

Dies ist ein weites Feld, dessen Bearbeitung sich die HANSA in der Zukunft nicht versagen sollte.

Autor: Kapitän Hans-Hermann Diestel

Althof / Bad Doberan

althof.diestel@t-online.de


Hans-Hermann Diestel