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Immer mehr Verfahrensanweisungen können das schleichende Sterben von Traditionen in der Seemannschaft nicht wettmachen. Ein Kommentar von Hans-Hermann Diestel
Seit langem interessieren mich, als lange zur See gefahrener Kapitän, die Traditionen meines Berufes sowie allgemein die Tradition im Zusammenhang[ds_preview] mit der Bewahrung des maritimen Erbes. Dabei sind es in der Seefahrt weniger die Äquatortaufe und andere mehr oder weniger traditionelle Bräuche, sondern vor allem die Weitergabe von Handlungsmustern, die den Beruf des Seemannes entscheidend prägten.

Ich möchte mich beim Begriff Tradition eng an den lateinischen Ursprung des Wortes (tradere = »hinübergeben« bzw. traditio = »Übergabe«, »Auslieferung«, »Überlieferung«) halten. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Schifffahrt mit dieser Aufgabe nicht besonders gut klar gekommen. Sie leidet einerseits darunter, dass nach 1968 Begriffe wie Tradition, Autorität und Erziehung in weiten Bereichen der westdeutschen Gesellschaft in Ungnade fielen und dass andererseits bewährte Strukturen (Inspektionen usw.), so wurde es zumindest gesagt, dem Kostendruck zum Opfer fielen.

Ein weiterer Faktor ist die starke Globalisierung der Schifffahrt. Homogene Besatzungen wurden mit dem Untergang des sozialistischen Lagers zu einer sehr seltenen Ausnahme. Unter solchen Bedingungen können Handlungsmuster, die in der deutschen Schifffahrt üblich waren, nicht überleben.

Zu den traditionellen Handlungsmustern gehören für mich: Dass man als Wachoffizier weder die Brücke auf See noch das Schiff im Hafen verlässt, dass man die Wache mit allen erforderlichen Informationen übergibt, nach der Wachübernahme mit einem eigenen Schiffsort sofort den übergebenen kontrolliert, bei Doppelwache als Navigationsoffizier unaufgefordert navigiert und dem Teamleiter die Ergebnisse der Navigation ungefragt mitteilt, dass der Lotse Berater und nicht Teamleiter ist und dass der Wachoffizier die genannten Maßnahmen und ihre Ergebnisse in das Schiffstagebuch einträgt.

Verantwortlich für das Weitergeben dieser Traditionen waren einerseits die Nautischen Inspektoren von der Unternehmensseite und die Kapitäne an Bord. Nautische Inspektoren gibt es nur noch in Ausnahmefällen, und wenn, dann haben sie in der Regel die aktive Seefahrt nach »kurzer Verweildauer« verlassen. Träger der Tradition können sie kaum sein. Dem Kapitän fehlt damit eine ganz wichtige Person. Jemand, der ihn berät, unterstützt, kontrolliert und anleitet. Einige Unternehmen sprechen ihre Kapitäne nicht mehr als Kapitän an und einige von diesen wollen ihrerseits nicht als Kapitän angesprochen werden. Bei einem solchen Verhalten werden weder Unternehmen noch Kapitän Thomas Morus gerecht, der gesagt hat: »Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.«

Bei Unternehmen mit einer solchen Geschäftspolitik wollte ich nicht fahren, und als Designated Person Ashore hätte ich meinem Chef empfohlen, einen solchen Kapitän keinen neuen Kontrakt anzubieten. Für mich gehörte auch zu den von mir geschätzten Traditionen, dass ich mich als Kapitän jederzeit um die Sicherheit von Schiff, Besatzung und Ladung kümmere, dass meine Offiziere sich auf mich verlassen können, dass ich ihnen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehe und dass ich korrekt auftrete. Die damit verbundenen Anforderungen an meine und ihre Arbeit mögen ihnen nicht unbedingt immer gefallen haben, aber ich habe stets die Hoffnung gehabt, dass ein großer Teil von ihnen mit der Zeit genug Klugheit entwickelt, um ihre Berechtigung zu erkennen.

Auch wenn ich Carl Friedrich von Weizsäckers Auffassung »Tradition ist bewahrter Fortschritt, Fortschritt ist weitergeführte Tradition« zustimme, heißt das nicht, dass jede Tradition in unserer Zeit ihre Berechtigung hat. Auch Traditionen müssen sich in der Realität immer wieder beweisen. Aber ihre leichtfertige und unnötige Aufgabe hat zu Orientierungslosigkeit und schlechter Seemannschaft geführt. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass das Sterben von Traditionen mit immer mehr Verfahrensanweisungen kompensiert werden muss.

Autor: Kapitän Hans-Hermann Diestel

Althof / Bad Doberan, althof.diestel@t-online.de

Hans-Hermann Diestel