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Fenster sind die Schwachstellen der Schiffshülle. Sie dürfen unter dynamischen und statischen Belastungen nicht versagen. Daher hat die Technische Universität Hamburg-Harburg (TUHH) eine Methode zur Bewertung der Versagenswahrscheinlichkeit entwickelt.
Die Betriebsfeuerwehr hat das Versuchsgelände der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft weiträumig abgesperrt. Wer verstehen will, was vor sich geht, muss den[ds_preview] Kopf in den Nacken legen. In 40 m Höhe hängt ein praller Kunststoffsack am Kranhaken, gefüllt mit 1.500 l Wasser. Professor Wolfgang Fricke, Leiter des Instituts für Konstruktion und Festigkeit von Schiffen der TUHH, hat das Schicksal der anderthalb Tonnen schweren »Wasserbombe« wortwörtlich in Händen. Er hält ein Seil, mit dem er den Kranhaken öffnen und so den Abwurf des Wassersacks auslösen kann. Noch wartet er, bis das Pendeln des Wassersacks fast nicht mehr zu sehen ist. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Spektakel in einer populärwissenschaftlichen Show, ist ernsthafte Forschung. Die genaue Positionierung des Wassersacks ist wichtig, weil er ein etwa 900 x 900mm2 großes Fenster treffen soll. Das Fenster besteht aus 30mm starkem Verbundsicherheitsglas, eingeklebt in die Zarge eines Stahlunterbaus, der wie ein Schiffshüllenfragment ausgeführt ist.

Fricke erklärt den Versuchsaufbau: »Das Fenster ist für den unteren Bereich der Frontwand eines Schiffsaufbaus ausgelegt worden, der durch überkommende ›grüne‹ See gefährdet ist. Die Glasscheibe und der Unterbau sind mit verschiedenen Sensoren ausgestattet, mit denen Drücke und Beanspruchungen gemessen werden.«

15m2 nachgebaute Realität warten auf den Seeschlag, das grüne Wasser. Gemeint ist damit eine gigantische Welle, die auf die fensterbewehrte Front eines Schiffes trifft. »1,5t Wasser aus 40m Höhe«, überschlägt Wellenexperte Professor Moustafa Abdel-Maksoud von der TUHH, »das entspricht in etwa dem Auftreffen einer 20 bis 25m hohen Welle.«

Dieser Versuch in Flensburg legt dynamische Lasten zugrunde, die vornehmlich auf die Brückenfenster einwirken. Im Projekt wird eine Methode zur Bewertung der Versagenswahrscheinlichkeit von Fensterstrukturen unter hydrodynamischen Lasten entwickelt und experimentell validiert.

Schiffssicherheit gefährdet

Fenster sind ein potenzieller Schwachpunkt in der Schiffshülle. Drückt ein Wellenschlag die Fenster der Brücke ein, gerät das Schiff durch das eindringende Wasser und den dadurch möglichen Ausfall der Elektrik in Gefahr. Fricke und sein Forschungsteam wollen in diesem und weiteren Versuchen Daten aufnehmen und aus­werten, um das Zusammenwirken von Schiffsstruktur, Glasscheibe und deren Ein­fassung zu untersuchen. Da die Belastung genau definiert ist, lassen sich im Anschluss die bisher angewandten Berechnungsverfahren gut überprüfen und wenn nötig modifizieren.

Der Wasserbombenversuch in Flensburg gehört zum FuE-Vorhaben »Grenztragfähigkeit von sicherheitsrelevanten Schiffsfenstern«. Eingebettet ist das Vorhaben in das Forschungsprojekt »Maritime Sicherheitsaspekte bezüglich Installation und Wartung von Offshore-Windenergie­anlagen«. Hintergrund ist der – zumindest erhoffte – rasante Aufbau von Offshore-Windstromkapazitäten in den deutschen Gebieten der Nord- und Ostsee. Service- und Reparaturteams müssen unter rauen Bedingungen die Offshore-Parks mit mehr oder weniger kleinen Schiffen anlaufen. Für sie sind deshalb auch die Gefahren der Handelsschifffahrt relevant – und damit auch das Versagen von Fensterstrukturen.

Ein vorangegangener Versuch mit einer »Minibombe« von 200 l aus 2m Höhe hatte keine Wirkung auf Stahl und Fensterglas gezeigt. Umso wichtiger ist die Aufnahme von Messdaten bei der großen Wasserbombe. Der technische Versuchsleiter Jürgen Schröder erklärt die Messtechnik: »Wir haben auf das Glas Dehnmessstreifen geklebt, welche die Dehnung in Längs- und Querrichtung messen. Auf der Oberseite gibt es Drucksensoren. Dazu haben wir extrem schnelle Verstärker.«

Die Messdaten werden also mit sehr hoher Geschwindigkeit aufgenommen, um die sehr kurzen Spitzenbelastungen zu erfassen. Schließlich dauert der Aufprall der Wasserbombe auf das Fenster nur wenige Hundertstelsekunden.

Nachdem alle Datenaufnehmer kali­briert sind, die Hochgeschwindigkeitskamera eingestellt ist und alle Beteiligten das Versuchsterrain verlassen haben, löst Fricke aus. Nach scheinbar kurzem Zögern macht sich die Wasserbombe auf den Weg nach unten. Kurz vor dem Aufprall erreicht sie eine Fallgeschwindigkeit von knapp 100km/h. Der Aufschlag auf das gut 15m2 große Stück Schiffshaut ist nicht zu überhören – ein ohrenbetäubender Knall hallt über das Werftgelände. Glassplitter pfeifen durch die Luft.

Totalversagen des Fensters

Von dem Fensterglas ist nichts mehr zu sehen. Es hat sich nicht nur »verkrümelt«, sondern sich in größeren Stücken bizarr verformt. Die Stahlstruktur, jetzt ohne Fensterglas, hat deutlich gelitten. Die Stahlplatten sind rund ums Fensterloch stark eingedrückt. Professor Fricke, der wissenschaftliche Mitarbeiter Bjarne Gerlach sowie der Labortechniker Schröder sind zufrieden mit dem Versuchsablauf. Ihr Fazit: »Wir haben Berechnungen angestellt und nach den Berechnungen hätte das Glas auch zerbrechen müssen. Auch mit der Deformation des Stahlunterbaus haben wir gerechnet.« Beides hängt unmittelbar zusammen. Die Hülle verbiegt sich beim Aufprall genau wie das Fensterglas.

Nach dem spektakulären Fensterversuch auf der Werft führten Fricke und sein Ingenieursteam noch eine Reihe von Versuchen durch, um Daten nicht nur für den Extremfall, sondern auch für kleinere Zwischenfälle zu gewinnen. »Wir haben Abwurfhöhe und Abwurfgewicht variiert«, sagt Gerlach. »Die Stahlstruktur haben wir ähnlich wie beim Versuch in Flensburg gestaltet.« Hilfreich war dabei, dass das Hallendach an der TUHH geöffnet werden kann und somit Fallhöhen – einen entsprechenden Kran vorausgesetzt – von 20m und mehr möglich sind.

Viermal noch knallte ein Wassersack aus 8 und 20m Höhe auf ein Fenster, einmal mit 600 l Wasser, dreimal mit 1.000 l Wasser. »Uns geht es darum, eine definierte Last zu bekommen und die empirisch gewonnenen Daten mit den gerechneten zu vergleichen«, fährt Gerlach fort. Insbesondere gehe es auch darum, Daten für den zerstörungsfreien Aufschlag des Wassersacks zu gewinnen.

Rechnung und Messung stimmen gut überein

Noch ist das Team der TUHH mit der Auswertung und Überprüfung der Daten beschäftigt. Trotzdem lassen sich erste Ergebnisse festhalten. »Wir sind soweit, dass wir die auftretenden Belastungen und die Spannungsverläufe nachrechnen können«, sagt Gerlach. »Die gerechneten und gemessenen Werte stimmen zufriedenstellend überein.« Er will auch die unterschiedlichen Konstruktionsmöglichkeiten für den Glas-Stahlhülle-Übergang überprüfen. Denn aus den Versuchsabläufen lässt sich die These ableiten, dass die Steifigkeit der Stahlstruktur verringert werden muss. Ein »weicherer« Übergang absorbiert die kinetische Energie des Aufpralls besser als ein steifer. Andererseits kann die Scheibe herausrutschen, wenn die Durchbiegung von Glas und Stahl zu groß werden. »Hier gilt es ein Optimum zu finden«, so Gerlach.

Eine Versuchsreihe betrifft auch das Glas selbst. Die Schiffbauer verwenden für die Brückenfenster meist handelsübliches Verbundsicherheitsglas. Welche Auswirkungen Oberflächenbeschädigungen auf die Widerstandsfähigkeit des Glases haben, sei bereits als Versuchsreihe gebucht. Es ist zu erwarten, dass Vorschädigungen des Glases zu messbaren Schwächungen führen.

Darüber hinaus könnte Gerlach sich Versuchsreihen über den Alterungsprozess der Verbundgläser vorstellen, denn durch UV-Licht und Feuchtigkeit altert der Kleber zwischen den Glasschichten. Auch das wirke sich auf die Belastungsfähigkeit der Verbundgläser aus, erklärt Gerlach. Wann dies verwirklicht wird, sei aber noch nicht abzusehen, Die Forschungsarbeiten an der TUHH sind auch für Kreuzfahrtschiffe von Relevanz. Sie weisen an den Seiten große Fensterfronten auf, deren Versagenskriterien nicht eindeutig definiert sind. Das Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren, der Abschlussbericht ist für Anfang 2015 zu erwarten.


Jörn Iken