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Die wachsenden Signal- und Datenmengen an Bord sind vom Menschen kaum noch erfassbar, argumentiert Diethard Kersandt. Das umfangreiche Informationsangebot werde so zu einer neuen Fehlerquelle
Menschen machen Fehler! Sie werden in der Führung von Schiffen wieder und immer wieder auftreten, wenn es in der Entwicklung[ds_preview] von Brückensystemen keinen grundlegenden Wandel gibt. Die IMO beschreibt in ihrem Papier »Role of Human Element« (MSC 88/16/1 vom 20. August 2010) diesen Zustand wie folgt: »Decisions based on wrong interpretations of complicated or ambiguous information are usually the result of insufficient training or experience, or bad communications.« Fehler werden u. a. verursacht durch »poor design of equipment, user controls and interfaces, or work procedures, increases workload, response times, fatigue and stress levels«. Weiter wird beklagt, »[that] mistakes are invisible when they are made. An error is usually only noticed or labelled as such when it has already contributed to catastrophe.«

Diese traditionelle Sicht muss durch eine neue Betrachtungsweise des Problems verändert werden: »… driven by a number of observations about the way in which the world has changed in recent years«. Zwei der angesprochenen Veränderungen werden im Anhang 1 herausgestellt:

– »Technology is changing too fast for managers and engineers to keep up. This is affecting all parts of the maritime industry, e.g. bridge automation and navigation systems, real-time global tracking and management of vessels by their land-based owners, and high-tech vessel design and operation.«

– »Digital technologies create new kinds of failure and new kinds of accident. The traditional safety engineering approach of using redundancy to minimize risks does not work with e.g. computer systems where redundancy adds complexity and thereby actually increases risk.«

– »The development of highly complex systems frequently means that no one person understands the whole system or has complete control of it. Furthermore, the circumstances of their use can never be completely specified and the resulting variability of performance is unavoidable.«

Die Grundberührung der »Costa Concordia« war der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Ein scheinbar technisches Meisterwerk, das alle Anforderungen an moderne Navigationstechnik zu erfüllen scheint, versagt in dem Moment kläglich, in dem sich menschliche Schwächen offenbaren. Die Bemühungen von Herstellern zur Erhöhung von Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Servicefreundlichkeit und Umfang der Prozessabbildungen haben ihre technischen Grenzen wahrscheinlich noch nicht erreicht. Aber die Signal- und Datenmengen und die dadurch wachsende »scheinbare« Komplexität sind vom Menschen kaum noch erfassbar. Sie sind nicht nur die Quelle neuer Ideen, sondern zugleich die Ursache von Fehlentwicklungen.

Zwar sind die Bemühungen einiger Reeder beispielgebend, aber nicht mehr ausreichend. Der Mensch fühlt sich immer weniger als Bestandteil des Prozesses, sondern als sein »überforderter« Anhang. Er schützt sich dadurch, dass er nur noch das wahrnimmt, was ihm nützlich erscheint und was seine Vorstellungen von den Prozessverläufen entspricht. Er befindet sich immer häufiger in Situationen, in denen er die Gefahr für Passagiere/Ladung, Schiff und Umwelt nicht schnell genug und/oder unvollständig bis falsch einzuschätzen in der Lage ist. Der Zustand, in dem sich die Schiffsführung befindet, wird ihm nicht mehr bewusst.

Ursächlich dafür ist nicht etwa die Komplexität des Prozesses selbst, sondern der Zeitverlust, der durch Vorgänge der Signal­erkennung, der Datenverarbeitung und der Versuche zur Situations­abbildung im Gehirn entsteht. Prozesse der Informationsbewertung, der Herstellung von Zusammenhängen und der Vorhersage der weiteren Entwicklung geraten ins Hintertreffen. Das aber sind Kerninhalte »guter Seemannschaft«. Die Situation wird verfälscht widergespiegelt, ihr Abbild, ob nun richtig oder falsch, ist allerdings die wichtigste Grundlage der Handlungsregulation. Die Leistungsfähigkeit des Menschen bildet eine objektive Grenze und der erste Schritt zu einer sicheren Schiffsführung führt über die Akzeptanz seiner Schwächen und seiner Fehler. Die Sicherheit inte­grierter, großer, komplexer Prozessführungssysteme mit sich zufällig und dynamisch ändernden Prozesszuständen darf unter diesen Bedingungen und Möglichkeiten nicht ausschließlich dem Menschen überlassen bleiben.

Beim Betrieb von Schiffen, bei der Entwicklung von Navigations­systemen und in der Bildung/Fortbildung ist das »Systemdenken« nicht nur ein methodischer Schritt, sondern die Grundlage der neuen »Philosophie« einer »verlässlichen« Schiffsführung.

Anmerkung der Redaktion: Eine ausführliche Fassung des Beitrags mit Thesen, Schlussfolgerungen und Lösungsbeispielen für risikobasierte Betriebsbereiche finden Sie online unter www.h ansa-online.de/fileadmin/pdf/fachartikel/Kersandt.pdf

Dr.-Ing. habil. Kapitän (AG) Diethard Kersandt