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Anlässlich der Kongressmesse ITS in Hamburg präsentiert ein Forschungsvorhaben unter der Überschrift »Training meets Science«. Es befasst sich mit dem Thema Neuroergonomie und erforscht Stress und Workload im maritimen Bereich
Der Schlepper »Weser« fährt stromabwärts, nähert sich dem entgegenkommenden Passagierschiff. Die Aufgabe: Heckleine übernehmen und den Dampfer in die Kaiserschleuse[ds_preview] bringen. Dieses Trainingsszenario am Simulator ist simpel, dennoch beansprucht es den Probanden mit verkabeltem Kopf ziemlich: Mit dem Antrieb hatte er noch nie zu tun. Schleppleine übernehmen – das geht ja noch. Dann das Drehen in Richtung der Schleuse – die Lotsenanweisung, sich nach Osten zu positionieren, wird zum verflixten Spiel. Eine Erkenntnis, dass Schlepperfahren gar nicht so einfach ist, dass man am Schleppdraht herumschaukeln kann, wie an einem Gummiband. Es scheppert, man hatte »Kundenkontakt« und schon dröhnt die Nachfrage aus dem Funk: »Schlepper ›Weser‹, was ist da los?« Zu allem Überfluss kommt nun noch ein Seitenwind Bft. 7–8 auf.

Die Kappe mit abgehenden Kabeln ist quasi der Sensorhalter für die Messung eines Elektroenzephalogramms (EEGs). Mit deren Hilfe wird die hirnelektrische Aktivität direkt von der Kopfoberfläche gemessen. Es geht um die Stresserkennung, um die Auswirkung von Situationen, denen ein hohes Stresspotenzial zugeordnet wird, auf das Geschehen im Kopf.

Initiator des Forschungsprojekts sind K+S projects, kompetente Unterstützung kommt von der Technischen Universität Berlin und der Hochschule Bremen. Der Blick über Branchengrenzen hinaus brachte die Beteiligten ins Grübeln. Die Kollegen aus der Luftfahrt müssen in regelmäßigen Abständen »auf dem Trockenen« trainieren – eine beinharte Vorgabe, sonst ist die Lizenz zum Fliegen weg.

Aber es geht nicht nur um Kontrolle, sondern auch um das Vermitteln von Handwerkszeug. Die Zahlen und Einschätzungen der Versicherer sprechen für sich, die Schiffsunglücke der Vergangenheit ebenso. Die Anzahl der Schulungszentren mit vollumfassenden Schiffsführungssimulatioren (»full mission ship handling simulators«) erhöht sich, die Sichtsysteme werden besser, die technische Optimierung ist auf dem Vormarsch. Die Akzeptanz, technische Innovationen in der maritimen Branche einzusetzen, steigt. Aber wie kommt man ans Ziel, die Schiffssicherheit für Mensch und Schiff tatsächlich zu verbessern? Wie erhält man aus unternehmerischer Sicht Gewissheit, seine Leute nicht nur auf eine spannende Hightech-Spielwiese zu schicken? Welches Konzept bringt schlussendlich den gewünschten Effekt? Unter dem Strich geht es um Sicherheit für Menschen, Umwelt und Material. Geht etwas schief, steht man vor menschlichen Dramen, enormen Kosten und dem Imageverlust, der die Grundlage betriebswirtschaftlichen Erfolges massiv einschränkt.

Angesichts dieser enormen Bandbreite der Betrachtungsmöglichkeiten hatten Kerstin Klinkenberg und Kurt Scholz von K+S projects die Idee, den Blick auf den zu schärfen, der letztlich im Zentrum der Bemühungen sitzt: der Seemann, der menschliche Faktor im Gesamtarrangement.

Bringt ein Mehr an Technik, d.h. neu oder anders aufbereitete Daten, die Lösung? Wird es nicht langsam Zeit, sich dem Menschen an sich und dessen naturwissenschaftlichen und psychologischen Grundlagen – nicht als »Problem«, sondern als Tatsache – zu widmen? Gemeinhin nimmt man den Menschen in seinen Facetten als funktionierend hin – und wenn nicht, gilt er als möglichst einzusparender Faktor in der betrieblichen Kalkulation mit hohem Risikopotenzial.

Selbst wenn man – hypothetisch – die gesamte Besatzung an Land verbannen würde, säße irgendein Mensch über den Kontroll- und Betriebsdaten, die Aufgabe wäre verlagert und bedarf trotzdem fachlicher Kompetenz und Erfahrung.

Welche Antworten kann die Wissenschaft liefern?

Bei Professor Klaus Gramann vom Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft der TU Berlin (Fachbereich Biopsychologie und Neuroergonomie) schaut man den Leuten per EEG in den Kopf. BCI ist das Stichwort: Brain-Computer Interface. Es geht hier nicht um Orwellsche Szenarien, es geht um das »Wie« und »Wo« der Informationsbearbeitung im Gehirn. Hier werden Entscheidungen gefällt und aktives Handeln wird in die Wege geleitet. Das Geschehen ist extrem komplex und individuell, Erfahrung und Persönlichkeit finden ihren Niederschlag. Menschliches Denken,

Fühlen und Handeln basiert auf elektrischer Aktivität von Nervenzellen im Hirn.

Das EEG gehört zu den nichtinvasiven Methoden, die elektrische Aktivität außerhalb des Schädels zu messen. Über eine BCI werden die gemessenen Daten aufbereitet und klassifiziert, d.h. liegt bewusstes Handeln vor? Könnte der Proband, der »Schlepperkapitän auf Probe«, mehr Informationen verarbeiten?

Ein anschauliches Beispiel ist die »mentale Schreibmaschine«, die Professor Benjamin Blankertz, ebenfalls von der TU Berlin, als Mitmach- und Anschauungsbeispiel auf der ITS in Hamburg präsentieren wird. Involviert ist auch Professor und Kapitän Thomas Jung von der Hochschule Bremen, Institut für Maritime Simulation. Die Bremer sind auf dem Trainingssektor aktiv, ein neuer Forschungssimulator ist beauftragt. Und Jung, von Hause aus Nautiker, aber mit langer beruflicher Praxis als Unternehmensberater, ist offen für den Blick über den Tellerrand. Individualisiertes Training ist sein Credo, ein offener Umgang mit Fehlern für ihn unumgänglich. Fehler sezieren, nicht im Sinne von Schuldzuweisungen, sondern um zu erkennen, was zu einer »vertrackten« oder gefährlichen Situation geführt hat, ist für ihn die angemessene pädagogische Grundhaltung. Daraus zu lernen, in einem individuell angepassten Training, ist die Konsequenz.

In Übereinstimmung mit den choreografischen Wünschen der Psychologen tüfteln Professor Jung und seine Mitarbeiter an den Trainingsszenarien, in denen man Probanden auf die simulierte Reise schickt. Das Ziel ist zu erkennen, wie von außen generierter Stress im Kopf ankommt.

Für die ersten Schritte des Projekts und für die Präsentation auf der ITS hat sich Rheinmetall Defense Electronics aus Bremen als dritter Projektpartner beteiligt. Das Unternehmen ermöglichte die Probemessungen und stellt den Demo-Trainingssimulator.

Der Status quo

Nachdem in einer ersten Probemessung die Machbarkeit in diesem Umfeld grundsätzlich überprüft wurde, sind in einer weiteren Messreihe im Februar 2014 Daten für die Programmierung des BCI gesammelt worden. Bis zur ITS soll die Schnittstelle programmiert und das BCI im Demo-Simulator implementiert sein. Ziel ist es, auf der Konferenz im Juni erste Messergebnisse zeigen zu können und weitere Messungen zur Validierung durchzuführen.

Auf Basis der Erkenntnisse über das Geschehen im Kopf könnten zukünftig unterstützende Elemente für die Entwicklung von geeigneten Trainingsverfahren gewonnen werden, erwartet Klaus Gramann. Ebenso könne die individuelle Beanspruchung neben subjektiven Daten auch anhand physiologischer Informationen weiterführend analysiert und genutzt werden.

Mit der Präsentation auf der ITS sollen nicht nur Förderer für die weitere Forschungsarbeit geworben werden. Gleichzeitig soll es angesichts der Vielschichtigkeit von Stress und Arbeitsbelastung eine Einladung sein, sich dem Thema »Human Factor« in der Schifffahrtsbranche weiter zu öffnen.