Wie einen großen Teil der Welt beschäftigt die russische Invasion in die Ukraine auch uns. Als Fachmedium berichten auch wir über die Auswirkungen des Krieges auf Schifffahrt, Häfen und Lieferketten. Doch unter ganz besonderen Umständen müssen die vielen Seeleute – sowohl aus der Ukraine, als auch aus Russland – arbeiten. Aus Büros und Hallen lässt sich nicht annähernd erahnen, wie belastend das Leben an Bord derzeit sein kann. Die Seeleute sind aber das Rückgrat unserer Branche, ihr Schicksal sollte nicht außer Acht gelassen werden. Deswegen haben wir uns dazu entschieden, die »Editorial«-Seite dieser Ausgabe einem Menschen zu überlassen, der aus eigener Erfahrung berichtet.[ds_preview]

Von Kapt. Gerald Immens, Nautischer Verein zu Kiel, Seelotse

Ich war viele Jahre sehr oberflächlich, vielleicht sogar etwas dumm und ignorant, wenn es um die Nationalität der überwiegenden Anzahl der Schiffsführungen und Besatzungen aus Osteuropa an Bord der von mir gelotsten Schiffe ging. Wenn mich jemand fragte, habe ich immer von »Russen« gesprochen und kaum einen Unterschied gemacht. Dies hat sich erst in den letzten Jahren geändert, weil ich bei den seltenen persönlichen Gesprächen während der Arbeit merkte, dass gerade auf den Linienschiffen der europäischen Reeder meist Ukrainer und gar keine Russen den Großteil der Besatzung stellen. Nun sind die Stimmung und die Gespräche an Bord komplett anders geworden!

Am Morgen des 24. Februar – dem Tag des Überfalls der russischen Armee auf die Ukraine – besetzte ich ein holländisches Schiff, um es vom Bunkerplatz in der Wik durch die Schleuse zum Turm zu bringen. Als ich auf die Brücke kam, wurde ich nur sehr kurz vom Kapitän und ersten Offizier begrüßt; beide waren intensiv in ihre Smartphones vertieft und telefonierten fast durchgängig. Auch beim Ablegen wurde das Handy kaum vom Ohr genommen, meine Manöver interessierten offensichtlich niemanden. Als dann in der Schleuse auch die Kommandos zum Festmachen ausblieben bat ich den Kapitän recht eindringlich, sich doch auch mal um meine beziehungsweise eigentlich seine Arbeit zu kümmern. Er kam auf mich zu, entschuldigte sich ganz herzlich und ihm schoss das Wasser in die Augen. Er berichtete mir, dass er im ukrainischen Charkiw nur 40 km von der russischen Grenze lebe und völlig fertig sei. Seine Frau sei schwer krank und auf Hilfe angewiesen, höre rundherum die Bomben und Granaten und wisse nicht mehr weiter. Gleichzeitig hatten seine Neffen angerufen, die in Russland leben und als Piloten der Armee dort gezwungen seien, Krieg gegen die eigene Familie zu führen. Nun war es an mir, mich bei dem netten und verzweifelten Kapitän zu entschuldigen und ich bat ihn, weiter zu telefonieren. Er war unglaublich dankbar, dass ich mich um sein Schiff kümmerte, damit er sich wenigstens von Ferne seiner Familie widmen konnte.

Am nächsten Tag besetzte ich ein Schiff unter russischer Flagge, und da ist es dann eigentlich auch immer klar, dass die Besatzung komplett aus Russen besteht. Die Russen haben eigentlich sehr oft ziemlich nervig auf »dicke Hose gemacht« und besonders nach dem Überfall auf die Krim ihren Leader glorifiziert, weshalb ich jegliche politischen Gespräche an Bord prinzipiell vermeide. Zu oft musste ich mir anhören, dass wir hier in einen Land voller Verbrecher leben und war fasziniert, wie stark sich doch die eigentlich der Welt zugewandten Seeleute ausschließlich von der eigenen Presse infiltrieren lassen. Doch nun schien alles anders: Der Kapitän und seine Besatzung wirkten fast verschüchtert, als die Kanalsteurer und ich an Bord kamen und waren erkennbar erleichtert, als ich zur Begrüßung mit einem Lächeln die corona-gerechte Boxerfaust entgegenstreckte. Wir wurden zwar gastfreundlich behandelt, es wurde aber jedes Gespräch vermieden, und die Schiffsführung saß in einer Ecke zusammen und rubbelte auf den Smartphones nach den neuesten Nachrichten.

Sehr krass wurde es dann bei der Rücklotsung, als ich auf das wohlbekannte und eigentlich gut geführte Feederschiff eines deutschen Reeders kam. Die Stimmung des Brückenteams war auf eisigsten Minusgraden und es fiel auf, dass der Kapitän nicht ein einziges Wort mit seinem zweiten Offizier wechselte, obwohl dieser die Wache übernehmen sollte. Ich warf einen Blick auf die ausgehängte Crewlist und musste feststellen, dass die gesamte Schiffsführung Ukrainer waren, nur der 2. Offizier war ein Russe. Dieser war völlig verschüchtert, stand in der Ecke und tat mir sofort unglaublich leid.

Kurz darauf war ich dann wieder auf einem Schiff mit ausschließlich ukrainischer Schiffsführung und fragte während der sehr langen Lotsung im Kanal ganz gegen meine eigentliche Gewohnheit den Offizier, wie es ihm und seiner Familie denn gehe. Er »schüttete« sofort sein Herz aus und zeigte mir Bilder von seiner Frau und der kleinen Tochter, die sich in der Wohnung in Odessa in der kleinen Toilette einen Schutzraum eingerichtet haben, weil dies der einzige Raum ohne Fenster ist. In vielen Nachbarhäusern habe es Verletzte durch splitterndes Glas gegeben. Er wäre natürlich gerne bei seiner Familie, müsse dann als junger Mann aber sicherlich sofort in die Kämpfe ziehen, sagte er. Ohne ein sentimentaler Mensch zu sein: Das Bild von seiner verzweifelten Familie im winzigen Klo werde ich nie vergessen. Plötzlich verabschiedete ich mich nicht mehr wie sonst nur mit den Worten »Gute Reise«, sondern mit einem sehr ernst gemeinten »My heart is with you and your family!«

Auf der Rückreise in derselben Nacht kam ich auf ein kleines holländisches Schiff mit komplett holländischer Besatzung und einem sehr jungen Kapitän. Als er mich zunächst freundlich fragte, wie es mir denn so gehe, erzählte ich ihm von meiner Begegnung kurz zuvor. Er brach in eine unglaublich arrogante Schimpfkanonade auf all die »blöden Russen und Ukrainer« aus, dies sich ruhig gegenseitig umbringen sollen, Hauptsache er bekomme diese unfähigen Leute nicht mehr an Bord. Was für ein Idiot! Es wurde bis Holtenau sehr still auf der Brücke …