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Mehr als 60 Schiffe stecken noch im Kriegsgebiet in der Ukraine fest. Die betroffenen Reedereien dürften bald auf Schadenersatz pochen. Von Michael Hollmann[ds_preview]

Angesichts der inzwischen wieder laufenden Getreideverschiffungen aus der Ukraine heraus könnte man den Eindruck gewinnen, der Seeverkehr funktioniere selbst im Kriegsgebiet halbwegs normal. Doch weit gefehlt: Nach wie vor liegen Dutzende Seeschiffe in ukrainischen Häfen und kommen nicht raus. Die Anzahl beziffert die Internationale Schifffahrtskammer (ICS) auf 64, davon fahren 62 unter ausländischer Flagge. Seit dem 25. Februar – dem Tag nach der Invasion – ist der Schiffsverkehr ausgesetzt.

Abstract: Rush of claims in prospect over ships trapped in Ukraine

Marine insurance faces a spate of »total loss« claims next February for trapped ships, one year after the closure of Ukrainanian ports. Experts estimate a volume of up to 1 bill. $ which would be a large-scale event and likely be enough to plunge the market into a loss. Also, there is major controversy brewing over whether insurers were entitled to terminate cover and demand extra premium for reinstatement.

Sollte es in den kommenden drei Monaten keine Lösung geben, droht den Kriegsversicherern in der Schifffahrt eine Welle von schweren Schäden. Das Gesamtrisiko beziffern Experten der Association of Average Adjusters – dem internationalen Berufsverband der Dispacheure – auf bis zu 1 Mrd. $. Auf diese Summe könnten sich die Werte aller eingeschlossenen Schiffe addieren und somit auch die Schadenersatzforderungen der betroffenen Eigner.

Denn ein Großteil von ihnen dürfte zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Sperre eine Kriegsrisikodeckung gehabt haben. Darin für gewöhnlich enthalten: eine sogenannte »Blocking & Trapping«-Klausel. Die besagt, dass Reedereien die betreffenden Schiffe als konstruktiven Totalverlust deklarieren können, wenn seit Verlust der Verfügungsgewalt eine Frist von zwölf Monaten verstrichen ist. Der Stichtag dafür wäre der 24. Februar 2023.

Die Voraussetzungen für Schadenersatz sahen Experten auf einer gemeinsamen Veranstaltung der Association of Average Adjusters und der International Underwriting Association (IUA) Anfang November in London grundsätzlich erfüllt. Insofern könne man im Februar potenziell von »einer hohen Anzahl von Meldungen von Totalschäden zum gleichen Zeitpunkt« ausgehen, stellte der Fachanwalt Jonathan Bruce von der Kanzlei HFW fest.

Das Schadenpotenzial hat für die Assekuranz eine erhebliche Dimension, wenn man bedenkt, dass sich die gesamten Prämieneinnahmen für Seekasko weltweit auf nicht mehr als 7,8 Mrd. $ belaufen. Möglicherweise verzichten einige Reedereien aber zunächst auf einen »Claim«, mutmaßte Bruce. Grund: Der Marktwert einiger betroffenen Schiffe sei im Zuge des Booms am An- und Verkaufsmarkt inzwischen weit über den Versicherungswert (Taxe) gestiegen. In solchen Fällen liege es nahe, dass die Eigner noch nach Wegen suchten, die Schiffe freizubekommen oder sie zu verkaufen, statt sich mit einem vergleichsweise geringen Schadenersatz zu begnügen.

Streitigkeiten zwischen Versicherern und Reedereien erwartet Bruce vor allem bei Schadenfällen innerhalb der Zwölf-Monats-Frist zum Beispiel, wenn ein Schiff in diesem Zeitraum von einer Rakete getroffen wird.

Vor dem Hintergrund, dass alle Kriegsdeckungen nach dem Angriff Russlands gekündigt wurden und nur die wenigsten Reedereien die unverhältnismäßig hohen Kosten für eine Erneuerung der Policen auf sich genommen haben, dürften die Versicherer argumentieren, dass die Kriegsdeckung damit erloschen sei. Bruce bezweifelt dies jedoch genauso wie der Dispacheur und Vizevorsitzende der Association of Average Adjusters, Burkhard Fischer von Albatross Adjusters in Limassol. »Aus meiner Sicht ist es zumindest problematisch, dass Versicherer überhaupt Zusatzprämien verlangen für Schiffe, die seit 24. Februar in ukrainischen Häfen festliegen.« Fischer begründet dies damit, dass für die betroffenen Schiffe längst ein versicherter Schadenfall unter Kriegsrisiko (»Detainment«) eingetreten sei und es für sie gar keine Alternative gebe. Da wäre es logisch, die Zwölfmonatsfrist der »Blocking & Trapping«-Klausel abzuwarten – gegen Zahlung der regulären, ursprünglich vereinbarten Kriegsprämie, versteht sich, bevor eine Kündigung wirksam wird.

Fischer zieht hier einen Vergleich zur »Continuation Clause«, die besagt, dass Schiffe weiter als versichert gelten, auch wenn sie vermisst sind. In Anlehnung daran schlägt er einen Zusatz für Kriegsversicherungspolicen vor, wonach festliegende Schiffe so lange weiter versichert sind, bis sie wieder losfahren dürfen oder unter der Police als Totalverlust deklariert werden.