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Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe erforscht Stress und Arbeitsbelastung in der maritimen Welt, um die Schifffahrt sicherer zu machen. Kapitäne erleben im Simulator verschiedene Trainingssituationen. Von Kerstin Klinkenberg


Auf der ITS 2016 in Boston stellt die Arbeitsgruppe bestehend aus der MARIN, der TU Berlin, k+s projects unter[ds_preview] der Beteiligung von Philips, Group Innovation, erste Ergebnisse einer Pilotstudie über die Beanspruchung von Schlepperkapitänen während des Simulatortrainings vor.

Die Kapitäne wurden im Simulator mit verschiedenen Trainingssituationen konfrontiert. Währenddessen wurden EKG, Hautleitfähigkeit, Atemfrequenz und die Gehirnströme mittels EEG gemessen. Die langfristige Fragestellung zielt auf die Ermittlung eines »Workload-Faktors«, einer neutralen Einheit zur Bewertung von (Stress-)Situationen.

Im Fokus: das »biologische System« Mensch und die Frage nach der Aufmerksamkeit, der Beanspruchung und dem Stress. Wie viel »Workload«, wie viel Auslastung der gesamt zur Verfügung stehenden Aufmerksamkeit, beansprucht eine nautisch-technische Aufgabe? Wann und wodurch wird der »Stress« zu viel, wann wird die gezielte Schiffsführung durch den »instinktiven Glücksgriff« abgelöst?

»Stress entsteht vor allem im Kopf«, diese Kurzfassung der jahrzehntelangen Forschung entstammt der Feder von Prof. Manfred Spitzer, Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Psychiatrie der Universität Ulm und des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen.

Wie werden Reize von außen – wie aufkommender Nebel, das Geräusch einer reißenden Leine, die ungewohnte Steuerung etc. – wahrgenommen, wie werden sie im internen System (Gehirn) bewertet und welche Körperreaktionen werden als Folge eingeleitet: geglücktes Fahrmanöver, schwitzige Hände, erhöhter Puls, Atemfrequenz, Unmutsäußerungen … Bis zu 1.400 chemische und physikalische Veränderungen könne man als Stressreaktion messen, wichtig sei nun, sich für aussagekräftige, realisierbare Verfahren zu entscheiden.

Die Auswahlentscheidung für die Art und Intensität der Reaktionen findet im Gehirn statt. Die Ausstattung an Nervenzellen (Neuronen) steht bei der Geburt schon fest. Was sich verändert, vereinfacht gesprochen, ist die Stärke der »Verkabelung« und die interne Vernetzung als Produkt des gelebten Lebens. Das Geschehen im Kopf wird mit einem Netz von 64 Sensoren gemessen, der EEG-Kappe. Die aktuelle Projektgruppe setzt auf die ersten Gehversuche des Teams von der TU Berlin, der Hochschule Bremen, von Rheinmetall und k+s projects auf.

Die Tests wurden bei MARIN im hauseigenen Schleppersimulator durchgeführt. Das Sichtfeld betrug 270°, ein zusätzlicher Monitor liefert den Blick nach achtern. Die Messungen wurden auf einem simulierten ASD-Schlepper mit 60t Pfahlzug durchgeführt. Die Simulatorbrücke verfügte über die übliche Brückenausstattung: Thruster- und Windensteuerung, Radar, elektronische Karte, Conning-Display. Die Kommunikation erfolgte über VHF.

MARIN übernahm die die Messung und Auswertung der Herzratenvariabilität per EKG, Philips stellte das Armband mit den Sensoren zur Messung der Hautleitfähigkeit und wertete den Datensatz aus. Die EEG-Messungen und Datenanalyse erfolgten durch Prof. Benjamin Blankertz und seinen Mitarbeiter Daniel Mklody. Zwei Szenarien, die klare Zeitspannen von Phasen hoher und niedriger Anforderungen enthielten, erwiesen sich als günstige Versuchsanordnung:

Bow to Bow-Szenario: Schlepperbegleitung eines Containerschiffes in der Anreise zum Hafen Rotterdam. Dauer der einzelnen Phasen: 5 min.

Phase 1 – geringe Beanspruchung: Schlepperwarteposition im Steuerbord-Heckbereich des fahrenden Containerschiffs

Phase 2 – hohe Beanspruchung (high 1): Schlepper wird aufgefordert, sich zum Bug des Containerschiffes zu begeben. Dort soll er im Abstand von 15–30m auf die Übergabe der Wurfleine warten. Die Reisegeschwindigkeit betrug 7kn. Aufkommender Seegang, Nebel.

Phase 3 – hohe Beanspruchung (high 2): Schleppleine fest. Anweisung, den Schlepper mit konstanter Zuglast und Richtung zu halten. Nach fünf Minuten kommt die Anweisung, let go – der Schlepper soll sich wieder zum Heckbereich auf der Steuerbord-Seite begeben.

»N-back«-Szenario – einfache nautische Aufgabe, zusätzliche Aufgabe: Hören einer Zahlenfolge, wenn die gehörte Zahl mit der zwei Zahlen zuvor genannten Zahl (n-2) identisch ist, soll ein Signalknopf gedrückt werden. Die jeweiligen Sequenzen betrugen je 4 Minuten

Phase 1 – niedrige Anspannung: Fah­ren als Begleitschlepper, parallel zum Schiff;

Phase 2 – hohe Anspannung: Fahren als Begleitschlepper, zuzüglich der ungewohnten Zählaufgabe.

Direkt nach jeder Phase wurde ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung ausgefüllt. Der Gesamtzeitaufwand/Proband lag bei 3–4 h. Zehn Probanden wurden in der zweiten Versuchswoche getestet. Die höchsten Beanspruchungen wurden bei der Positionierung des Schleppers vor dem Bug gemessen, der zweite Peak im Moment der Übergabe der Schleppleine. Auch wenn das von MARIN gesteckte Ziel lautet, einen generellen Workload-Indikator zu ermitteln, ist der individualisierte Beanspruchungsindex derzeit besser zu erreichen. Denn Veränderungen sind, bezogen auf eine Person, einfacher zu identifizieren.

Die Messverfahren zeigten ihre Vor-und Nachteile: Die Herzrate hat sich als funktionierendes Kriterium erwiesen, da der Schiffsführer auf einem Schlepper in der Regel sitzt. Dies ist auf anderen Schiffsbrücken nicht so. Wenn physische Bewegung in die Messung einfließt, wäre ein anderes Verfahren zielführender.

Das EEG ist in der Vorbereitung aufwendig, 64 Elektroden müssen gesteckt und die Leitfähigkeit mittels eines Gels sichergestellt werden. Die gemessenen Werte bewegen sich im mV-Bereich, Störeinflüsse durch elektronische Geräte müssen beachtet werden. Die Auswertung verlangt Expertise und mathematischen Aufwand, um spezifische »Workload-Muster zu filtern. Kommt man also zum Ziel?

Herzschlagrate und Hautleifähigkeit sind abhängig von einer Vielzahl von Einflussfaktoren. Im Labor kann man diese konstant halten – und somit vom aufgabenspezifischen Workload trennen. Bei realen Anwendungen lassen sich diese »Begleiterscheinungen« dagegen nicht herausrechnen. »Es ist bisher nicht gelungen, eine unter Realbedingungen stabile Schätzung aus diesen einfach zu messenden Biosignalen zu bestimmen«, sagt Professor Blankertz.

Beim EEG stehe man vor der selben Aufgabe, doch ließen sich räumliche Filterungen vornehmen, die, ähnlich einem Richtmikrophon, nur die Signale aus einem räumlich klein umschriebenen Areal des Kopfes durchließen. So sollen die spezifischen, mit dem Work­load korrelierenden Quellen des Gehirns angezapft werden, während andere Einflussfaktoren abgeschwächt werden könnten. Der Trend gehe daher in Richtung der Erforschung alltagstauglicher Messungen. »Wir benötigen weitere Echtzeitstudien zur Workload-Ermittlung sowie eine intensive und stark verzahnte Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen der Neurotechnologie und den Spezialisten des jeweiligen Anwendungsgebietes«, so Blankertz.


Kerstin Klinkenberg