In seinem neuen »Safety & Shipping Review« zieht der Versicherer Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) eine gemischte Bilanz für die jüngste Vergangenheit. Zudem sehen die Experten einige Risiken für die Schifffahrt.[ds_preview]
Wie schon jüngst im HANSA PODCAST führte Justus Heinrich, Leiter der Schifffahrtsversicherung der AGCS in Zentral- und Osteuropa und Globaler Produktmanager für Schiffskasko der AGCS, auch jetzt die Folgen der Corona-Pandemie und der Schiffsgrößenentwicklung als potenzielle Risiken für die Branche auf: »Die Totalschäden sind das dritte Jahr in Folge auf einem historischen Tiefstand. Dennoch gab und gibt es Herausforderungen: Die anhaltende Belastung der Crews durch lange Zeiten an Bord, die Zunahme von teuren und komplexen Schäden gerade in Zusammenhang mit größeren Schiffen, die wachsenden Sorgen hinsichtlich Verzögerungen und Unterbrechungen in der Lieferkette sowie die Einhaltung von Umweltauflagen stellen die Reeder und ihre Besatzungen vor große Herausforderungen im Risikomanagement.«
Als positiv bewertet AGCS, dass die internationale Schifffahrtsbranche ihren langfristigen positiven Trend zu mehr Sicherheit im vergangenen Jahr fortgesetzt hat. Die Zahl der Totalverluste von großen Schiffen blieb 2020 auf einem Rekordtief, und auch die gemeldeten Schiffsunfälle gingen im Vergleich zum Vorjahr weiter zurück, so die Ergebnisse des »Safety & Shipping Review 2021«. Man müsse allerdings die Herausforderungen von Covid-19 meistern, die Lehren aus dem Suezkanal-Zwischenfall ziehen und sich auf die kommenden Herausforderungen in den Bereichen Cybersicherheit und Klimawandel vorbereiten.
Die Ergebnisse
Die jährliche AGCS-Studie analysiert die gemeldeten Schiffsverluste und -unfälle
(Zwischenfälle) über 100 Bruttoregistertonnen.
- Im Jahr 2020 wurden weltweit 49 Totalverluste von Schiffen gemeldet, ähnlich wie im Jahr zuvor (48). Das ist die zweitniedrigste Gesamtzahl in diesem Jahrhundert. Dies entspricht einem Rückgang um 50% innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre (98 im Jahr 2011). Die Zahl der Schiffsunfälle sank von 2.818 auf 2.703 im Jahr 2020 (-4%). In den vergangenen zehn Jahren gab es insgesamt mehr als 870 Schiffsverluste.
- Die Seeregion »Südchina, Indochina, Indonesien und Philippinen« bleibt der globale Unglücks-Hotspot und ist für jeden dritten Verlust im Jahr 2020 verantwortlich (16), wobei die Zahl der Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist.
- Frachtschiffe (18) machen mehr als ein Drittel der im letzten Jahr verlorenen Schiffe und 40% der Gesamtverluste in den letzten zehn Jahren aus.
- Untergegangene (gesunkene) Schiffe waren die Hauptursache für die Totalverluste im vergangenen Jahr. Das betraf jede zweite Havarie.
- Maschinenschäden/-ausfälle waren mit 40% die Hauptursache für Schiffsunfälle weltweit.
Auswirkungen der Corona-Pandemie
- Trotz der verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 waren die Auswirkungen auf den Seehandel nach Ansicht der Allianz geringer als zunächst befürchtet. Das globale Seehandelsvolumen sei auf dem besten Weg, das Niveau von 2019 in diesem Jahr zu übertreffen, allerdings bleibe die Erholung volatil. Covid-19-bedingte Verzögerungen in den Häfen und Probleme beim Management der Schiffskapazitäten haben zu Staus zu Spitzenzeiten und einem Mangel an leeren Containern geführt. Im Juni 2021 gab es schätzungsweise eine Rekordzahl von 300 Frachtschiffen, die auf die Einfahrt in überfüllte Häfen warteten. Die Zeit, die Containerschiffe beim Warten auf Hafenliegeplätze verbringen, hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt.
- Die Situation des Besatzungswechsels auf Schiffen wird als eine »humanitäre Krise« bewertet, die sich weiterhin auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Seeleuten auswirkt. »Längere Zeit auf See kann zu mentaler Ermüdung führen und die Entscheidungsfähigkeiten beeinträchtigen, was sich letztlich auf die Sicherheit auswirkt.«
- Obwohl Covid-19 bisher nur zu begrenzten direkten Schäden in der Schifffahrt geführt hat, ist der Sektor nicht verschont geblieben. »Insgesamt hat sich die Häufigkeit von Schiffsschäden nicht verringert. Wir sehen auch einen Anstieg der Kosten für Kasko- und Maschinenschäden aufgrund von Verzögerungen bei der Herstellung und Lieferung von Ersatzteilen sowie einer Verknappung der verfügbaren Werftflächen«, sagte Heinrich. Auch die Kosten für Bergung und Reparaturen sind demnach gestiegen. »In Zukunft könnten die Versicherer möglicherweise einen Anstieg der Schadenersatzansprüche bei Maschinenausfällen feststellen, wenn die Besatzung im Rahmen der COVID-19-Einschränkungen nicht in der Lage war, Wartungsarbeiten durchzuführen oder die Herstelleranweisungen zu befolgen.«
Großschiffe als größere Risiken
Die Blockade des Suezkanals durch das Containerschiff »Ever Given« im März wird als Beispiel für wachsende Risiken durch immer größere Schiffe gesehen. Es sei »der jüngste in einer wachsenden Liste von Zwischenfällen mit großen Schiffen oder Megaschiffen«.
Anastasios Leonburg, Senior Marine Risk Consultant bei AGCS, sagte: »Größere Schiffe bedeuten besondere Risiken. Die Reaktion auf Zwischenfälle ist komplexer und teurer. Die Zufahrtskanäle zu bestehenden Häfen wurden zwar tiefer ausgebaggert und die Liegeplätze und Kaianlagen erweitert, um große Schiffe aufzunehmen, aber die Gesamtgröße der Häfen ist gleichgeblieben. Infolgedessen kann ein Versehen häufiger zu einem Unfall werden.«
Wäre die »Ever Given« nicht wieder flott gemacht worden, hätte die Bergung einen langwierigen Prozess des Entladens von rund 18.000 Containern erfordert, wofür Spezialkräne nötig gewesen wären. Die Wrackbeseitigung des großen Autotransporters »Golden Ray«, der 2019 mit mehr als 4.000 Fahrzeugen an Bord in US-Gewässern kenterte, hat laut der Allianz über anderthalb Jahre gedauert und mehrere hundert Millionen Dollar gekostet.
Mehr Brände an Bord
Auch die Zahl der Brände an Bord großer Schiffe wird als »besorgniserregend« eingestuft. Allein im Jahr 2019 gab es einen Rekord von 40 Bränden im Zusammenhang mit der Ladung an Bord. Über alle Schiffstypen hinweg stieg die Zahl der Brände/Explosionen, die zu einem Totalverlust führten, im Jahr 2020 noch einmal an und erreichte mit 10 Fällen ein Vierjahreshoch. Ein besonders besorgniserregender Trend ist der jüngste Anstieg der Häufigkeit von Bränden auf Containerschiffen mit einem Wert von über 500.000 $.
Brände beginnen oft in Containern, was die Folge einer Nicht-/Fehldeklaration von gefährlicher Ladung wie Chemikalien und Batterien sein könne, heißt es in dem Bericht. Sei die Ladung falsch deklariert, werde sie möglicherweise unsachgemäß verpackt und an Bord verstaut, was zu einem Brandausbruch führen und/oder die Erkennung und Brandbekämpfung erschweren kann.
Der Verlust von Containern auf See hat im letzten Jahr ebenfalls deutlich zugenommen (über 3.000) und hat sich 2021 auf hohem Niveau fortgesetzt, was Lieferketten unterbricht und ein potenzielles Verschmutzungs- und Navigationsrisiko darstelle. Die Zahl der verlorenen Container sei die höchste seit sieben Jahren. »Größere Schiffe, extremeres Wetter, ein Anstieg der Frachtraten und falsch deklarierte Ladungsgewichte (die zum Einsturz von Containerstapeln führen) sowie die steigende Nachfrage nach Konsumgütern können zu diesem Anstieg beitragen. Die Fragen danach, wie Container an Bord von Schiffen richtig gesichert werden, nehmen zu«, schreiben die Experten.
Staus und Verzögerungen
Für die Allianz steht unter anderem die Widerstandsfähigkeit der maritimen Lieferketten nach den jüngsten Ereignissen im Fokus: Der »Ever Given«-Vorfall habe »Schockwellen« durch jene globalen Lieferketten geschoben, die vom Seetransport abhängig sind. Der Vorfall verstärkte die Verzögerungen und Störungen, die bereits durch Handelsstreitigkeiten, extreme Wetterbedingungen, die Pandemie und die steigende Nachfrage nach Containergütern und Rohstoffen verursacht wurden. »Transparenz in der Lieferkette vom Rohstoff bis zum Endkunden ist wichtig, um das gesamte Lieferkettensystem in dem sich ein Unternehmen bewegt wirklich zu verstehen und dadurch Risiken erkennbar, kontrollierbar, quantifizierbar zu machen«, sagte Leonburg. »Genauere Wettervorhersagen und Technologien werden den Schifffahrtsunternehmen dabei helfen, vorauszuplanen und Maßnahmen zu ergreifen, um Verluste zu vermeiden, beispielsweise die Abfahrt zu verzögern, Schutz zu suchen oder in einen alternativen Hafen umzusteuern.«
Piraterie & Cyber-Angriffe
Der weltweite Hotspot der Piraterie, der Golf von Guinea, war im Jahr 2020 für über 95 % der weltweit entführten Besatzungen verantwortlich. Letztes Jahr wurden 130 Besatzungsmitglieder bei 22 Vorfällen in der Region entführt. Das Problem habe sich fortgesetzt: Schiffe würden immer weiter von der Küste entfernt ins Visier genommen – in einigen Fällen über 200 sm. »Die Pandemie könnte die Piraterie verschlimmern, da sie zugrunde liegende soziale, politische und wirtschaftliche Probleme verschärfen könnte. Ehemalige Hotspots wie Somalia könnten wieder aufflammen.«
Der Bericht stellt außerdem fest, dass die vier größten Schifffahrtsunternehmen der Welt alle bereits von einem Cyberangriff betroffen waren. Da sich geopolitische Konflikte zunehmend im Cyberspace abspielen, wächst die Sorge vor einem möglichen Angriff auf kritische maritime Infrastruktur, wie beispielsweise einen wichtigen Hafen oder eine Schifffahrtsroute. Die zunehmende Sensibilisierung für Cyberrisiken und die entsprechende Regulierung führen dazu, dass Schifffahrtsunternehmen zunehmend Cyberversicherungen abschließen, wenn auch bisher hauptsächlich für landgestützte Aktivitäten.
Umwelt-Regulierung
Im Rahmen der weltweit zunehmenden Anstrengungen zum Klimaschutz sind nach Ansicht der AGCS »enorme Investitionen in Forschung und Entwicklung erforderlich, wenn die Branche die ehrgeizigen Ziele erreichen soll, die sie sich gesetzt hat.« Mit der heutigen Flotte und Technologie werde die Schifffahrtsindustrie das Ziel der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO), die Emissionen bis 2050 um 50% zu senken, nicht erreichen, ganz zu schweigen von den ehrgeizigeren Zielen, die von nationalen Regierungen diskutiert werden.«
Die Versicherer haben den Angaben zufolge eine Reihe von Schadenersatzansprüchen für Maschinenschäden im Zusammenhang mit Scrubbern festgestellt, die SOx aus den Abgasen filtern.