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Kranbewegungen mit schwerer Last stellen hohe Anforderungen an die Stabilität von Schiffen. Eine neue IMO-Regelung bringt mehr Klarheit für solche Operationen

Das Szenario ist durchaus real: Beim Heben einer gewaltigen Last von der Kaikante an Bord reißt die Ladung plötzlich vom[ds_preview] Schiffskran ab. Das durch Stabilitätsponton und Ballastwasser sorgfältig austarierte Schiff verliert dadurch seine Stabilität und rollt in die entgegengesetzte Richtung. Je nachdem, wie stark die Pendelbewegung ausfällt, drohen Wassereinbruch oder sogar ein Kentern des Schiffes.

Dieses Risiko wollen weder Schiffseigner noch Kapitän eingehen. Deshalb brauchen sie fundierte Berechnungen über das Stabilitätsverhalten des Schiffes in solchen Extremsituationen.

Doch die federführende Institution, die internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO, hatte bisher nur Regeln für die Schiffsstabilität auf hoher See verabschiedet – und da ist die Ladung gesichert und die Krane dürfen gar nicht bewegt werden. »Weil für die Nutzung der Krane im Hafen keine einheitlichen Regeln existierten, haben sich viele Schifffahrtsunternehmen mit eigenen Company-Guidelines beholfen«, erläutert Jan Rüde, Schiffstypexperte für Mehrzweckfrachter (MPV) bei DNV GL. Auch die norwegisch-deutsche Klassifikationsgesellschaft selbst hatte entsprechende Regeln entwickelt, aber diese betreffen nur von DNV GL klassifizierte Schiffe, und ihre Anwendung ist freiwillig.

»Solange es keinen gesetzgeberischen Text gibt, sind verschiedene Lösungsansätze möglich«, sagt Rüde. In diesem Zusammenhang sei es zwischen Ladungseigner, Schiffseigner und Charterer häufiger zu Debatten gekommen – und im Zweifel hat der Kapitän das letzte Wort und kann aus Sorge um Schiff und Crew den Transport verweigern. Auch mit der Beaufsichtigung beauftragte Marine Warranty Surveyors legen gelegentlich ihr Veto ein. Die Folge: Der Ladungseigner brachte sein Transportgut nicht rechtzeitig ans Ziel, der Charterer verlor wichtige Einnahmen.

Neue IMO-Regel setzt Standards

Wegen dieses kostenträchtigen Konfliktpotenzials und weil es immer wieder zu Unfällen kam, bei denen Schiffe während des Beladungsvorgangs beschädigt wurden oder sogar kenterten, hat sich eine Arbeitsgruppe der IMO des Themas angenommen: Herausgekommen sind Stabilitätskriterien für das Lifting, sprich für das Heben schwerer Lasten (2008 IS Code, Part B 2.9 »Ships engaged in lifting operations«). In den zugrundeliegenden Berechnungsmodellen ist auch der problematischste Fall, das Abreißen der Last, berücksichtigt. Zwar gelten die Regeln erst ab 2020, und ausschließlich für Neubauten sowie in den meisten Anwendungsfällen auf freiwilliger Basis. Trotzdem kommt jetzt bereits Bewegung in den Markt: »Vor allem Ladungseigner aus der Öl- und Gasindustrie haben den Anspruch, hier universell gültige Standards anzuwenden«, sagt Ole Hympendahl, Principal Engineer Fluid Engineering und Stabilitätsexperte bei DNV GL. »Weil die transportierten Komponenten sehr teuer und die Anlieferung oft zeitkritisch ist, wollen die Eigner sicherstellen, dass die Logistikkette funktioniert und ihre Ware unversehrt ankommt. Dadurch steigt der Druck auf die Transporteure, schon jetzt den Nachweis zu erbringen, bis zu welchem Gewicht Schiffe und Krane auch komplexe Ladevorgänge im Hafen wegstecken können«, sagt Hympendahl.

Für Charterer und Schiffseigner bedeutet dies: Wer hier im Geschäft bleiben will, muss aus Sicht der Klassifizierer nicht nur Neubauten auf die neuen Stabilitätskriterien ausrichten, sondern auch seine bestehende Flotte entsprechend durchleuchten. DNV GL hat dazu ein Paket aus Information, Beratung und Berechnung im Angebot, das den Kunden helfen soll, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. »Das können bauliche Veränderungen am Schiff sein – normalerweise aber geht es um bestimmte Vorgaben für maximale Kranauslage und Ladungsgewicht«, erklärt Hympendahl. Ziel ist es unter anderem, zu verhindern, dass es beim maximalen dynamischen Rollwinkel zu einem Wassereinbruch an Bord kommt, zum Beispiel durch eine während des Ladevorgangs offene Luke.

Berechnungen für mehr Sicherheit

Die erforderlichen Kalkulationen führt die Klassifikationsgesellschaft auf Basis der einschlägigen IMO-Vorgaben durch. Sie war Teil der zuarbeitenden Korrespondenzgruppe die an der Entstehung der Richtlinie maßgeblich beteiligt war. »Die neue Vorschrift kommt dem entsprechenden DNV GL-Klassezeichen sehr nah«, sagt Hympendahl. Ein weiteres Plus: Bei Schiffen mit Klasse DNV GL sind die für Stabilitätsberechnungen relevanten Daten bereits verfügbar und müssen nicht eigens erstellt werden. »Das gilt immer dann, wenn die Neubauklassifikation bei uns erfolgte oder die Reederei unseren Emergency Response Service nutzt«, erklärt Rüde. Gerade Schiffe mit größeren Kranen wie Schwergut- oder Mehrzweckfrachter, für welche die Vorschrift relevant ist, entstehen nach seiner Erfahrung oft in Serien mit zumindest ähnlicher Rumpfform. Abweichende Konstruktionsdetails lassen sich dann über die einschlägige Software leicht berücksichtigen. »Stabilität ist nur ein Baustein. Wichtig ist deshalb eine ganzheitliche Betrachtung«, meint Hympendahl. Neben der Schiffsstruktur spielen auch Kriterien wie die Leistungsfähigkeit der Ballastwasserpumpen, die Schwingungsdämpfung des Krans und die typischen Ladefälle eine Rolle.

Triple-Win-Situation

Nach Einschätzung der Experten von DNV GL ist die neue IMO-Richtlinie ein bedeutender Schritt zu mehr Sicherheit und Wettbewerb: »Wenn sich alle an die gleichen Regeln halten, sinkt nicht nur das Risiko, sondern wird auch der Markt transparenter«, erklärt Rüde. Außerdem wachse durch die Anwendung der Richtlinien die Flexibilität der Schifffahrtsunternehmen: »Nach diesen Vorgaben bleiben zwar Operationen auf offener See in den meisten Fällen untersagt, aber für die Übergabe von Ladung in geschützten Gewässern wie Buchten mit definierten Wind- und Wellenverhältnissen eröffnen sich neue Möglichkeiten.« Alle denkbaren Fälle lassen sich so im Vorhinein kalkulieren – und die Gefahr, dass Schiff und Ladung Schaden nehmen, wird signifikant reduziert. »Auch wenn die neue IMO-Vorschrift nicht verbindlich ist, dient sie als Geschäftsgrundlage, wird der Ladevorgang im Hafen und auf geschützter Reede sicherer, und im Ernstfall sinkt bei Abriss der Ladung das Kenterrisiko«, sagt Rüde. Davon profitieren sämtliche Akteure: Die Schiffseigner, weil ihre Schiffe keinen Schaden nehmen und mögliche Risiken versichert sind; die Ladungseigner, weil es keine Akzeptanz- und Verzögerungsprobleme beim Transport gibt; und schließlich Charterer und Crew, weil sie eine fundierte Basis für ihre Dienstleistung haben und das Risiko von Unfällen sinkt.